Maurizio Pollini als Programmmacher: Kriegslärm und Schönheitsvision

Das „Pollini-Projekt“ beim Lucerne Festival 2008: Zwei Konzerte spüren den Gemeinsamkeiten von Chopin und Nono, Stockhausen und Liszt nach

Schon lange versteht sich Maurizio Pollini auf das schwierige Geschäft, das Klassikpublikum an die ungeliebte neue Musik heranzuführen. Gemeinsam mit Claudio Abbado und dem politisch radikal links stehenden Luigi Nono übte er das bereits um 1970 ein. In der kulturellen Aufbruchsstimmung, die damals in Italien herrschte, engagierten sich die Drei in den Konzerten, die in der Scala unter dem reformfreudigen Intendanten Paolo Grassi durchgeführt wurden und ein unvoreingenommenes Publikum ansprachen, das in den Hörsälen und Betrieben in Mailand rekrutiert wurde. Bei seinem Auftritt am Bonner Beethovenfest in den späten 1970er Jahren demonstrierte Pollini dann erstmals dem deutschen Publikum, wie ein zeitgemäßer Klavierabend aussehen könnte: Auf dem Programm standen Beethovens Diabelli-Variationen, gefolgt von Anton Weberns Variationen op. 27 und dem Klavierstück 10 von Stockhausen. Das Publikum nahm’s staunend zur Kenntnis.

Seit einigen Jahren tourt Pollini nun durch die europäischen Konzertsäle mit Programmen, die es in sich haben. „Pollini-Projekt“ nennt sich das Unterfangen, das sich zum Ziel gesetzt hat, die eingefahrenen Rezeptionsmechanismen – hier pianistischer Personenkult mit Werken aus Klassik und Romantik, dort Spezialveranstaltungen im Getto der neuen Musik – aufzubrechen und die Kategorien kräftig durcheinander zu bringen. Vor einem Jahrzehnt praktizierte er das schon bei den Salzburger Festspielen.

Mit welcher Kompromisslosigkeit er dabei vorgeht, konnte man nun in den zwei Konzerten des „Pollini-Projekts“ in Luzern erleben, und ebenso erstaunlich wie die Programmfolgen von Chopin und Liszt bis Boulez, Stockhausen und Nono war die ungeteilte Aufmerksamkeit, die das Publikum im vollbesetzten Saal allen Werken entgegenbrachte. Vielleicht stimmt es doch nicht so ganz mit der viel beklagten Reformunfähigkeit des Klassikbetriebs. Für den Erfolg solcher Initiativen braucht es allerdings illustre Überzeugungstäter vom Schlage eines Pollini und Macher wie Pierre Boulez, der gegenwärtig in Luzern seine fünfte Festival Academy leitet und mit diesem Nachwuchsförderungsprojekt entscheidend zu einem neuen Musikverständnis beiträgt.

Ungewöhnlich war schon der Beginn des ersten Konzerts: von Pollini keine Spur. Stattdessen ein einsamer Klarinettist, der im dunklen Saal unter einem Scheinwerferspot den klanglichen Subtilitäten im „Dialogue de l’Ombre double“ von Boulez nachspürte. Dann Auftritt Pollini: Er setzte sich bei den vier Stücken für Klarinette und Klavier von Alban Berg zunächst nur als Begleiter an den Flügel, wurde  aber dann, ein Höhepunkt vor der Pause, endlich seiner Rolle als Solist gerecht – mit den Klavierstücken VII bis IX von Stockhausen.

Die verdeckten Zusammenhänge in dieser abstrakten Musik holte er mit analytischem Spürsinn ans Licht, das neunte Klavierstück mit den rituellen Akkordwiederholungen gestaltete er als weit ausholende Klangerzählung. Damit rückte er die Werke in eine unerwartete Nähe zu den die Atonalität streifenden späten Klavierstücken von Franz Liszt, die nach der Pause folgten und ihrerseits den düster eingefärbten Auftakt für das pianistische Hauptstück des Abends bildeten: Liszts Sonate in h-moll. Pollini, dessen Spiel bei aller klanglichen Differenzierung nie die Bodenhaftung verliert, verzichtete auf alle exaltierten Temposchwankungen und konzentrierte sich in seiner gedrängten Wiedergabe ganz auf die enorme Klangdramatik, die der Musik innewohnt.

Im zweiten Konzert dann Chopin gegen Nono – ein Paar, wie es scheinbar gegensätzlicher nicht sein kann. Und doch trat auch hier im vermeintlich Unvereinbaren etwas Gemeinsames zu Tage. Man könnte es als den utopischen – und durchaus politisch eingefärbten – Gehalt in den Werken beider Komponisten bezeichnen: Hier Chopins Melodien mit ihrer Sehnsucht nach dem Verlorenen, eine Schönheitsvision inmitten einer wüsten Welt. Dort Nonos vokale Lyrismen, wie sie die Sopranistin Barbara Hannigan im unbegleiteten Gesangssolo „Djamila Boupachà“ mit großer innerer Ruhe nachzeichnete und wie sie auch im martialischen Klanggetümmel von „A floresta é jovem e cheja de vida“ immer wieder als kurze Visionen aufblitzen. Pollini setzte sich bei Nono auch selbst an den Flügel und spielte "...offerte onde serene...", die Komposition für Klavier und Tonband, die Nono 1976 für ihn geschrieben hatte.

In diesem zweiten Konzert war die Reihenfolge umgekehrt: erst die romantischen Highlights, dann das moderne Gewitter mit Blitz und Donner. Pollinis eher strenger Zugang zu Chopin mag nicht jedermanns Sache sein, doch in der Mischung von explosiver Emotionalität und strikter Einheit des Tempos in der Sonate b-moll, auch mit der wachen Aufmerksamkeit, mit der er – etwa  im Mittelteil des Scherzos in h-moll – Chopins genial disponierte Obertonspektren zum Klingen brachte, waren seine Interpretationen beeindruckend.

Das rund vierzigminütige „A floresta“, ein aufrührerisches Proteststück von 1965/66 für Stimmen, Instrumente und Tonband, erwies sich als ultimativer Test für die Belastbarkeit des Publikums. Er ging problemlos aus, obwohl die von kreischenden Klarinettentönen und dem Zischen von fünf Metallplatten eingerahmten Zitate von Marx bis Fidel Castro nicht unbedingt den Publikumsnerv getroffen haben dürften. Schüsse, Folterschreie und Sprechchöre vom Tonband bildeten die pikante Zutat, das Ganze wurde von Beat Furrer auf der Bühne koordiniert von den Klangregisseuren André Richard und Reinhold Braig zu einem heftig brodelnden Cocktail zusammengemixt.

Nono zerstört hier hemmungslos den ästhetischen Schein, der damals auch der Avantgarde noch ihre hochkulturelle Würde garantierte. Es sei weder in seiner Erforschung des Klangs noch in seiner Aussage überholt, begründet Pollini im Gespräch seine Präferenzen für das Stück:

Originalton Pollini (Realplayer, 0.58")

(Deutsche Übersetzung: "Mich faszinieren an diesem Stück die Untersuchungen an der Klangfarbe, die emotionale Kraft und der Geist des Protestes, die nach wie vor aktuell sind, auch wenn Nono damals streng marxistisch dachte und in den Vereinigten Staaten den Quell des universalen Bösen sah. Heute haben wir natürlich eine differenziertere Sicht, es gibt viele Realitäten in der Welt, deren Ursache nicht der "amerikanische Imperialismus" ist. Aber es bleibt die Aktualität dieses Protests gegen die Unmenschlichkeit des Kriegs ganz allgemein. Und es bleibt - und das ist der Grund, für die anhaltenden Diskussionen um das Stück - sein ästhetische Wert, das heisst: die Art, wie der Protest in Nonos Musik ausgedrückt wird.")

© 2008 Max Nyffeler
Eine aktuelle Printversion dieses Texts ist erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.9.2008, S. 36.

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