Mondschatten von Younghi Pagh-Paan: Ödipus landet im WasserVerunglückte Uraufführung durch die Staatsoper Stuttgart (21.7.2006)Die grosse Losung der neuen Musik hiess einst Aufbruch, und nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete sie das Erschließen immer neuer Verfahren, Materialien und Erfahrungshorizonte. In Mondschatten, dem ersten Bühnenwerk der seit 1974 in Deutschland lebenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan steht hingegen das Ankommen im Zentrum. Es ist ein Ankommen in der Fremde und zugleich bei sich selbst und beim Tod. Ziel ist nicht materielle Expansion und Aufbruch zu neuen Ufern der äußeren Wirklichkeit, sondern die Perspektive richtet sich auf den zunehmend enger werdenden Lebensradius eines alten Menschen, der im Begriff ist, seine Erfahrungen abzustreifen. Wer will, kann im Stoff und der Art, wie er verarbeitet wird, auch ein Bekenntnis zur Abkehr vom Gedanken des geschichtlichen Fortschritts erblicken, wie es in der westeuropäische Avantgarde in den letzten Jahrzehnten zunehmend artikuliert worden ist. Symptomatisch ist in diesem Fall, dass dieses Bekenntnis von einer Komponistin vorgetragen wird, die trotz über dreißigjähriger Anwesenheit in Deutschland die europäische Kultur noch immer aus dem Blickwinkel einer Fremden betrachtet. Es ist der asiatische Blick auf die überzeitlichen Bedingungen der menschlichen Existenz, und er steht im Widerspruch zur historisierenden Sicht der europäisch zentrierten Moderne. Doch gerade aus diesem Widerspruch bezieht das Stück seine eigentümliche Binnenspannung. Altgriechische und koreanische Tradition berühren sichVorlage des Werks, das Younghi Pagh-Paan als Kammermusiktheater bezeichnet, ist Sophokles’ Spätwerk „Ödipus auf Kolonos“. Der blinde Alte, geführt von seiner Tochter Antigone, sucht sich auf fremdem athenischem Boden den Ort zum Sterben, wird aber vorher noch einmal in wüste politische Händel verwickelt. Den ersehnten Tod, seine einzige Freiheit, muss er sich im Widerstand gegen seine Mitmenschen und seine eigenen Verstrickungen erkämpfen. Die erbarmungslose Härte und Konzentration in der Darstellung menschlicher Grundsituationen, markante Eigenschaften von Sophokles’ Text, gibt es auch im populären koreanischen Strassentheater und in der Bauernmusik, mit denen die Komponistin aufgewachsen ist und die auch in ihrem eigenen Schaffen starke Spuren hinterlassen haben. Die architektonische Strenge ihrer Musik, die statischen, harmonisch klar definierten Klangräume und die Herbheit der rhythmisch-melodischen Zeichnung eignen sich ideal für eine musikalische Umsetzung des archetypischen Geschehens. Mondschatten, ein Beitrag der Staatsoper Stuttgart zum gegenwärtig in Stuttgart stattfindenden World Music Festivals der IGNM, war die letzte, schon in die Ferienzeit hineinlappende Produktion der Ära Zehelein. Das auf der antiken Vorlage basierende Libretto stammt von der Chefdramaturgin Juliane Votteler. Es wurde von der Komponistin auf weniger als die Hälfte eingedampft ein selektives Verfahren, das an Nonos Umgang mit den Texten von Massimo Cacciari im Prometeo erinnert und nicht zum Schaden des Stücks ist, wie die Aufführung nun zeigte. Von Athen nach OggersheimEin Textvergleich bestätigt diesen Eindruck. Die „endgültige Fassung des Originallibrettos“, was immer das auch heissen mag, ist im Programmheft an erster Stelle abgedruckt, noch vor der gültigen, nämlich komponierten Version. Mit der für die ruhmreiche Stuttgarter Dramaturgie charakteristischen, weit schweifenden Intelligenz werden darin intertextuelle Bezüge von Leviathan bis zu Helmut Kohl hergestellt, um überall lauernde politische Machtintrigen zu entlarven; zum gedanklichen Inventar gehören auch Presslufthämmer und Maschinengewehre. Librettistin und Komponistin hatten offensichtlich zwei völlig verschiedene Stücke im Sinn, doch setzte sich letztere mit ihrer ursprünglichen Idee schließlich durch. Es mag sein, dass sich die auseinanderdriftenden Auffassungen als produktiver Widerspruch im Werk niederschlagen, und es wirkt wie eine List der Vernunft, dass sich in dieser Stuttgarter Abschiedsproduktion eine in fünfzehn Jahren entwickelte Dramaturgie nun gewissermassen selbst dekonstruiert. Einen nicht geringen Reiz zog die Inszenierung aus dem Aufführungsort im Freien, einer von modernen Glas- und Betonpalästen umgebenen Piazza hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof mit einer grossen quadratischen Wasserfläche im Zentrum. Darauf stellte der Bühnenbildner Stefan Heinrich eine Würfelkonstruktion mit transparenten Wänden, in deren Innerem die Musiker placiert sind. Die Dachfläche wird bespielt, die meisten Aktionen spielen sich indes auf und zwischen den vielen kleinen Trittflächen im knöcheltiefen Wasser ab. Durch die weiträumige Anlage der Szenerie liess sich Ingrid von Wantoch-Rekowski zu einer statuarischen, stark choreografisch konzipierten Regie anregen, die in ihren besten Momenten die Geometrie des Platzes sinnfällig einzubeziehen versteht, sich aber leider zunehmend auf eine Materialschlacht mit dem Wasser einlässt. Nach der Librettistin will auch die Regisseurin ihre eigene Geschichte erzählen, und diese führt vollends vom Kerngedanken des Stücks weg. Was als optischer Widerhaken mit dem Balancieren auf der Wasserfläche begonnen hat, endet als unfreiwillige Parodie: Eine Schar blasser Wäscherinnen wäscht zur Nachtzeit schwarze Tücher. Desaströse AkustikEinen klar strukturierten Kontrapunkt zum szenischen Zeichensalat setzten die langsam einsetzenden Lichter der Großstadt und die ein- und ausfahrenden Züge, die man im Hintergrund beobachten und ebenso wie drei Feuerwehreinsätze leider auch hören konnte. Situativer Vorteil und akustischer Nachteil hielten sich die Waage. Die Stimmen der mit Kopfmikrofon ausgerüsteten Sänger verbanden sich nicht mit dem entfernten Instrumentalklang, was das klangliche Gleichgewicht des heretophonen Stimmengeflechts empfindlich störte und die ausdrucksstarke Musik in ihrer Präsenz beeinträchtigte. Dabei war die musikalische Leistung sehr respektabel. Nigel Robson als Ödipus, Katharina Rikus als Antigone und Anja Metzger in der Doppelrolle von Polyneikes und erster Sphinx waren die herausragenden Sängerdarsteller, das Staatsorchester unter der Leitung von Johannes Debus gab sein Bestes. Zur Entfaltung seiner Qualitäten braucht das Werk allerdings andere Aufführungsbedingungen. © Max Nyffeler (Juli 2006) |