Bitte nicht jedes Jahr eine neue Carmen!

Gespräch mit Reiner Moritz* über die aktuelle Musikfilmproduktion

Die Musikfilmproduktion kann man ungefähr einteilen in Aufnahmen der Performing Arts, also Konzert, Oper und Tanz, in Documentaries und Doku-Dramas. Welche dieser Gattungen gehen heute am besten?

Am interessantesten sind natürlich Doku-Dramas, die Darstellung des Lebens eines Künstlers mit Schauspielern. Aber das ist sehr aufwendig, zumal noch das Sprachproblem dazukommt – für den internationalen Markt muss man entweder synchronisieren oder untertiteln. Das kostet alles sehr viel Geld und wird dementsprechend selten gemacht. Am besten geht Oper. Ballett leider so gut wie gar nicht. Bei den Opern werden immer wieder die gleichen produziert: „Carmen“, „Traviata“ oder „Tosca“. Und wenn dann noch der Netrebko-Faktor dazukommt, hat das im Fernsehen auch die höchsten Einschaltquoten. Dokumentationen, die sich noch ernsthaft mit den Themen auseinander setzen, haben es schwer. Die gibt es noch bei Arte, 3Sat oder dem ZDF-Theaterkanal, aber in den Hauptprogrammen überhaupt nicht mehr.

Welche Rolle spielt das Fernsehen als Musikfilmproduzent?

Es ist nach wie vor ein wichtiger Partner, aber viele Institutionen verfügen längst über eigene Vertriebswege, zum Beispiel die Berliner Philharmoniker mit ihrer „Digital Concert Hall“ im Internet oder das San Francisco Symphony Orchestra mit seiner DVD-Reihe. Da tut sich einiges. Wenn sich die Mitwirkenden auf eine Beteiligungsbasis einigen, ist auch die Aufzeichnung finanziell kein so großes Problem mehr. Ein Übertragungswagen und die Nachbearbeitung sind im Zuge der sich ständig revolutionierenden Technik nicht mehr so teuer.

Was heißt „Beteiligungsbasis“ konkret?

Früher verlangte ein Orchester zum Beispiel 30-40.000 Euro für die Aufzeichnung, und jetzt sagt es: Wir machen es auf Beteiligungsbasis. Damit steht dieser Betrag für die Produktion zu Verfügung, und das Fernsehen braucht man dann unter Umständen nicht mehr.

Geschieht das schon häufig?

Der Trend geht ganz stark dahin, denn das öffentlich-rechtliche Fernsehen nimmt seinen kulturellen Auftrag nicht mehr richtig ernst. Opernhäuser wie Amsterdam oder Covent Garden produzieren heute selbst; das Fernsehen arbeitet vielleicht noch im Auftrag eines Produzenten und stellt die Technik. Das Copyright bleibt somit beim Opernhaus, das nun zum Beispiel eine DVD herausbringen und weltweit Fernsehrechte verkaufen kann. So ist man nicht mehr auf das Wohlwollen des Fernsehredakteurs angewiesen, und es können auch ungewöhnliche Dinge aufgezeichnet werden. Amsterdam hat vor kurzem einen „Marco Polo“ von Tan Dun und einen hervorragenden „St. François d’Assise“ von Messiaen gemacht, und Covent Garden brachte „Minotaur“ von Birtwistle heraus, Titel, die Sie wohl schwerlich im Deutschen Fernsehen finden werden.

Ist das wirklich so ungewöhnlich?

Die Öffentlich-Rechtlichen wollen das nicht mehr, weil es keine Einschaltquote bringt. Doch die Musikindustrie lebt davon, Neues zu produzieren. Sie kann doch nicht jedes Jahr eine neue „Carmen“ oder „Bohème“ machen. Das macht auf Dauer den Markt kaputt und entwertet durch die andauernde Reproduktion das Kunstwerk. Dafür waren die Stücke nicht gedacht.

Funktioniert das Fernsehen wenigstens noch als Distributionsmedium?

Leider auch das immer weniger. Es ist aus Quotengründen auf Events aus. Ich halte diesen ganzen Einschaltquotenschwindel für maßlos überzogen und auch gefährlich. Was mit Kultur zu tun hat, kann nie eine große Einschaltquote erzielen. Die bekommt man nur, indem man sie verwässert. Dann ärgert man die echten Musikliebhaber, und die andern bleiben auch nicht bei der Stange. Es kann mir keiner erzählen, dass einer, der die drei Tenöre wegen des Fußballs gesehen hat, sich anschließend die „Tosca“ anschaut. Das halte ich für ein Gerücht.

Sind Großprojekte wie Wagners „Ring“ heute noch ein Verkaufserfolg?

Heute bekommen Sie den „Ring“ nicht nur aus Bayreuth oder London, sondern auch aus Odense, Valencia oder sogar Weimar. Das heißt: Jeder lokale Sender und jede lokale Institution möchten ihr eigenes Medienpaket schnüren. Und damit wird es immer schwieriger, sechs oder sieben Partner zusammenzubringen, um etwas zu kofinanzieren, was anspruchsvoller und teurer ist als der Durchschnitt. Aber Wagners Ring hat etwas Magisches an sich, und wenn man wie in Valencia La Fura dels Baus mit der Bühnenproduktion betraut und eine gute Besetzung aufbieten kann, hat so ein Projekt auch international Chancen. Das finanzielle und künstlerische Risiko liegt dabei fast ausschließlich bei den produzierenden oder mitproduzierenden Opernhäusern.

Welches sind die Schwierigkeiten der heutigen Opernaufzeichnungen?

Viele Inszenierungen sind heute extrem dunkel, auch so eine Modeerscheinung, und viele Regisseure weigern sich, ein gutes Fernsehlicht zuzulassen, weil es  ihren ursprünglichen Intentionen zuwiderläuft. Es ist eine Mär, dass hochauflösendes Fernsehen ohne Licht auskommen kann. Dazu kommt das Problem der Reisestars, die oft nicht alle Vorstellungen singen und zwischendurch auch noch anderweitig auftreten. Damit stehen sie oft nicht für Retakes zur Verfügung, die es manchmal braucht, um Ausbesserungen zu machen. Aber ein Aufzeichnungsgerät samt Personal für mehr als drei Tage an einen Ort zu binden, kostet viel Geld. Diese Tatsache und der Erlebnishunger unserer Gesellschaft scheinen entscheidende Faktoren für die sich häufenden Direktübertragungen zu sein. Was die Perfektion anbetrifft, muss man diese Entwicklung leider als Rückschritt bezeichnen.

© 2010 Max Nyffeler
Das Gespräch wurde im Januar 2010 an der Midem in Cannes geführt. Printversion: Opernwelt Sept./Okt. 2010

* Reiner Moritz ist langjähriger Musikfilmproduzent in München und London und Inhaber des Filmvertriebs „Poorhouse International“.

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