Tosca, Carmen und Frédéric, die Medienstars bei der MIDEM 2010

An der Musik- und Medienmesse in Cannes setzt die Klassik mit dem Chopin-Jahr und mit neuen Musikfilmen markante Akzente

Bei der diesjährigen MIDEM in Cannes, der weltweit wichtigsten Messe für den Handel mit Musikrechten im Pop- und Klassiksektor, wurde Ende Januar auch der 200. Geburtstag von Frédéric Chopin kräftig ins Rampenlicht gerückt. Beim Midem Classical Award, dem europäischen Plattenpreis für Klassik aller Sparten, wurde in Zusammenarbeit mit dem Chopin Institut Warschau erstmals der „Prix Spécial Chopin“ vergeben, und zwar gleich in doppelter Ausführung: Als „Best Ever“-Produktion wurden die Walzer mit Dinu Lipatti (EMI/Angel, Aufnahme 1947/1950) prämiert, als beste aktuelle Aufnahme die Préludes und die Sonate h-Moll op. 58 mit Nikolai Demidenko (ONYX).

Und beim Schlusskonzert zur Preisverleihung spielte dann der erst 14-jährige Polen-Kanadier Jan Lisiecki das Konzert in e-Moll mit Direktübertragung im französischen und polnischen Radio – nach etwas steifen Beginn immer freier und souveräner, was ihm den rauschenden Beifall des Publikums einbrachte. Die polnische Präsenz auf der Midem hatte größtmögliche Wirkung und war ein Beispiel für erfolgreiches nationales Kulturmarketing.

Pop in der Dauerkrise, Klassik im Aufwind

Die Popmusik steht im Zentrum der MIDEM, und damit dreht sich alles ums Geld. Unso mehr, als es überall fehlt. Diesmal hieß das Motto der zahlreichen Panels und Workshops „Monetising Music“ – wie man Musik zu Geld macht. Und wo man es holen will, verriet der Titel einer Gesprächsrunde: „Show Me the Digital Money“ – zeige mir das digitale Geld. Die Musikpiraterie hat dem Geschäft mit der Popmusik einen nachhaltigen Schlag versetzt, von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat.

Solche Probleme scheint es im Klassik-Bereich nicht zu geben, zumindest nicht bei den Musikfilmen. Vielleicht, weil es sich noch um einen jungen und vergleichsweise kleinen Markt handelt, der aber auf ein treues und offenbar kontinuierlich wachsendes Publikum bauen kann. „An den Ständen wird verkauft, es sind die Leute da, es wird gedealt, es wird diskutiert, es gibt Panels“, sagt Reiner Moritz, Musikfilmproduzent und Inhaber der Vertriebsfirma Poorhouse International mit Sitz in München und London. „Wir sind in der Klassik eigentlich relativ lebendig, muss ich sagen, im Gegensatz zur Pop-Welt.“

Das zentrale Forum innerhalb der Midem, wo diskutiert und gedealt wird, sind die Screenings des Internationalen Musik- und Medienzentrums (IMZ) Wien. An vier Tagen kann man hier praktisch die ganze weltweite Neuproduktion an Musikfilmen in kurzen Ausschnitten kennenlernen.

Musikfilm als Abenteuerreise

Die Thematik ist breit und reicht von der konventionellen Opern- und Konzertverfilmung aus Salzburg, London oder Valencia bis zur irrwitzigen Reportage der kleinen, aber rührigen Berliner Firma „Sounding Images“ über einen indischen Pianisten, der mit dem Flügel auf einem alten Laster holterdipolter über Lands fährt und auf Dorfplätzen Chopin spielt, während ihm die Kinder staunend in den Flügel hineinschauen und im Hintergrund die Kühe herumstehen. Bei der gleichen Firma hat der Filmautor Klaus Wischmann auch eine Dokumentation über das Kinshasa Symphony Orchestra herausgebracht – ein weiteres Musikabenteuer, wo europäische Klassik auf die unwirtlichen Gegebenheiten eines Entwicklungslandes stößt und die zum Klischee verkommene Behauptung von der „Macht der Musik“ plötzlich wieder zur lebendigen Wahrheit wird.

Auch Jazz und Ethnomusik werden bei den Screenings des IMZ dokumentiert. Die Münchner LOFT-Produktion präsentierte in diesem Jahr ein Filmporträt von Miles Davis, das ihn in seinem Münchner Konzert von 1987 als charismatischen Musiker und beim Atelierbesuch als Kommentator seiner eigenen Bilder vorstellt („I paint on the floor and I fuck on the floor.“) Bei den Produktionen mit Ethnomusik beeindruckte eine Produktion des kroatischen Fernsehens mit alten geistlichen Gesängen, aufgenommen in einer romanischen Kirche des 9. Jahrhunderts. Der archaische Wechselgesang zwischen Männern und Frauen wird durch die ungewöhnlichen Durchblicke durch die leeren Gewölbe und den harten Filmschnitt auf faszinierende Weise visualisiert.

Publikumsmagnet Oper

„Wow! This is the stuff you pay the ticket for“, freut sich Thomas Hampson werbewirksam am Schluss eines Trailers, der eine neue Reihe von Musikfilmen ankündigt. Es geht um Sex&Crime, Macht und grosse Leidenschaften. Genauer: um Oper. Um die Traviata, Carmen, Don Giovanni, Aida, Tosca und wie sie alle heissen. Der etwas trompetenhafte Serientitel der zehn halbstündigen Werkportraits lautet „Die schönsten Opern aller Zeiten“. Die Firma Unitel, ein Marktführer im Musikfilmgeschäft, präsentierte die Serie jetzt in Cannes.

Bei allem Optimismus gibt es aber doch einige Eintrübungen am Horizont. Die grossen Fernsehanstalten sind aus Quotengründen immer weniger bereit, ihre bisher so wichtige Rolle als Koproduzenten und  Lizenznehmer wahrzunehmen. Gesendet werde zunehmend Mainstream, und das sei dann eben die Traviata mit Netrebko-Bonus nebst grossen Events wie Echo-Preisverleihung oder Jubiläumsgalas, moniert Reiner Moritz. Anspruchsvolle Dokumentationen hätten fast nur noch bei Sendern wie 3Sat oder Arte, aber nicht mehr bei den Hauptsendern eine Chance.

Wegen des Desinteresses der Öffentlich-Rechtlichen beginnen immer mehr Opernhäuser, ihre Aufnahmen selbst herzustellen und zu vermarkten, letzteres zunehmend übers Internet. Der finanzielle Erfolg ist wohl eher langfristig, der Werbeeffekt jedoch schnell und beträchtlich. Covent Garden hat mit Opus Arte inzwischen sein eigenes DVD-Label; Opernhäuser von Paris bis St. Peterburg folgen dem Trend und produzieren auf eigene Rechnung. Nicht zu vergessen die Metropolitan Opera New York mit den Live-Übertragungen ihrer Premieren in viele Kinos in den USA, Kanada und zunehmend auch Europa. Die Streamings finden ein Fan-Publikum, das seine Stars in Grossaufnahme sehen und den Premierenkitzel miterleben möchte, sagte Met-Intendant Peter Gelb in Cannes. Mit Backstage-Kameras und Interviews wird eine Live-Atmosphäre wie bei einer Sportübertragung erzeugt. Die letzte Met-Premiere mit „Carmen“ lockte weltweit 330.000 kräftig zahlende Zuschauer in die Kinos.

Beispielhafte Dokumentationen

Das zunehmende Desinteresse des Fernsehens an exponierten Produktionen mag für Opernverfilmungen gelten, aber nicht unbedingt für die Sparte Dokumentation. Hier tut sich zum Beispiel die englische BBC hervor, die in diesem Genre auf eine alte Tradition zurückblicken kann. In diesem Jahr präsentierte sie wieder einige ihrer pädagogisch hervorragend gemachten „educational projects“, so die Serie „The Birth of British Music“,  eine intelligente Art von Musikgeschichte für Fernsehzuschauer. Oder die Initiative eines jungen Musikers, der in einer Kleinstadt einen Laienchor auf die Beine stellte und damit jung und alt quer durch alle Bevölkerungsschichten mobilisierte. „Singen und Gemeinschaft ist eins“ lautet das eminent britische Fazit, mit dem er den Erfolg seiner Idee begründete. Solche Dokumentationen haben noch immer Vorbildcharakter für den auf sozialer Resonanz ausgerichteten Musikfilm.

Als gelungene Dokumentation über einen musikalischen Gegenstand, der nicht so ohne weiteres darstellbar ist, erwies sich „Chopin in der Oper“ von Jan Schmidt-Garre. Der Filmemacher darin untersucht die Einflüsse der italienischen Oper auf das Klavierwerk des vor 200 Jahren geborenen Komponisten. Was als trockene musikwissenschaftliche Abhandlung hätte herauskommen können, wird hier zu einem stimmungsvollen filmischen Essay, der Auge und Ohr gleichermaßen anspricht. Das ist nicht zuletzt dem reizvollen Regieeinfall zu verdanken, die kleine Schar von Diskutanten und Musikern, die der Thematik nachgehen, in das Landschloss von George Sand in Nohant einzuladen, wo Chopin acht Jahre lang komponierenderweise die Sommer verbrachte. Die romantische Atmosphäre des abgeschiedenen Ortes färbt auf die Gespräche und Musikeinlagen unverkennbar ab und verleiht ihnen Tiefe und Konzentration.

Jenseits der Event-Kultur

Auf der Basis des Eigenrisikos, teils mit Koproduzenten aus der Privatwirtschaft, wird heute im Opernbereich manches möglich, was sonst bei den Öffentlich-Rechtlichen durch den Quotenraster fallen würde, wie der neue „St. François d’Assise“ von Messiaen und Tan Duns „Marco Polo“ aus Amsterdam oder die beiden aufsehenerregenden Inszenierungen von Szymanowskis „König Roger“ durch Krzysztof Warlikowski in Paris und David Pountney in Bregenz.

Die Tendenz zum spektakulären Event ist bei vielen heutigen Klassikverfilmungen unübersehbar. Dass es aber auch anders geht, demonstrierte in Cannes der englische Filmemacher Christopher Nupen, Inhaber der Firma Allegro Films, mit dem bewegenden Portrait der heute 106-jährigen Pianistin Alice Sommer Herz. Der leise, konzentrierte Film entstand vor acht Jahren in ihrer Londoner Wohnung, wo sie noch immer täglich ihren Bach und Beethoven übt. Die in Prag geborene Emigrantin erzählt mit hellwacher Kamerapräsenz von ihrer Deportation, ihren Konzerten im KZ Theresienstadt und vom Tod ihrer Angehörigen in Auschwitz. Zorn empfindet sie keinen. „Gut und Böse sind in allen Menschen vorhanden“, sagt sie. „Das Leben ist ein Geschenk, jeden Tag“. Ein Plädoyer für die Menschlichkeit und die Kraft der Musik. Und eigentlich ein Muss für jeden Fernsehsender, der etwas auf sich hält.

© Max Nyffeler, Februar 2010

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