Lucerne Festival, das neue Eldorado für die zeitgenössische Musik

Das diesjährige Festival mit 18 Uraufführungen und einer Initiative von Pierre Boulez

In Salzburg ist nach dem Weggang von Gérard Mortier das avantgardistische Parallelprogramm des "Zeitfluss"-Festivals still begraben und durch eine kurze Veranstaltungsfolge mit neuer Musik ersetzt worden, die wie ein isoliertes Anhängsel zum Hauptprogramm wirkt. Im einst sehr traditionslastigen Luzern hingegen kommen die Zeitgenossen neuerdings zu ungewöhnlichen Ehren. Das ist – neben einem geschickten Marketing und der Öffnung des Festivals zu neuen Publikumsschichten – eines der Verdienste des seit 1999 amtierenden Intendanten Michael Haefliger. Der ehemalige Geiger und Absolvent der Juillard School hat ein kompetentes Mitarbeiterteam um sich versammelt, dem er viel Planungsspielraum lässt, auch was die Integration der Moderne in das Gesamtprogramm angeht.

Die Zahlen des diesjährigen Lucerne Festivals hören sich eindrucksvoll an: Achtzehn Uraufführungen, vierzehn davon als Auftragskompositionen, rund 150 Werke des 20. und 21. Jahrhunderts, quer gestreut durch Kammer-, Ensemble- und Orchesterkonzerte, dazu zwei "Artistes étoiles" – der Cellist Thomas Demenga und der Dirigent Ingo Metzmacher – mit einem entsprechend wagemutigen Programm. Mit den Hamburger Philharmonikern und den Chören aus Brünn, Bratislava und Mainz brachte Metzmacher Bernd Alois Zimmermanns monumentales "Requiem für einen jungen Dichter" zu einer aufwühlenden Aufführung. Außerdem präsentierte er in einem "Late Night Konzert" als Dirigent und geistreicher Conférencier eines der Hamburger Sylvester-Programme, die unter dem Motto "Who is afraid of 20th Century Music?" dem breiten Publikum die Scheu vor der Moderne zu nehmen versuchen. Die ausgewählten Werke von Honegger und Revueltas über Bernstein bis Lutoslawski waren dazu durchaus geeignet.

Dazu kamen zwei Composers-in-Residence von extrem gegensätzlichem Profil: Isabel Mundry und Heiner Goebbels. Sie waren mit zahlreichen Werken und je einer Uraufführung in Luzern vertreten – Goebbels mit einer Konzertsuite aus seinem neuen Bühnenwerk "Landschaft mit entfernten Verwandten" mit dem Ensemble Modern, Mundry mit der Ouvertüre zu ihrer im Entstehen begriffenen "Odysseus"-Oper, gespielt vom City of Birmingham Symphony Orchestra. Das gewichtige Schlusskonzert des Festivals mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle wurde mit Goebels' abendfüllendem Orchesterwerk "Surrogate Cities" bestückt – ein programmatischer Wagemut, der vom Publikum honoriert wurde.

Die beiden Komponisten präsentierten sich auch in Gesprächen von den Konzerten der Öffentlichkeit und führten Kompositionsworkshops an der Luzerner Musikhochschule durch, die sich damit aktiv in das Festivalprogramm einbrachte. Vermittlung wird in Luzern ernst genommen, gerade mit neuer Musik. Die Zeiten der wortlosen Frontalkommunikation im Konzertsaal sind vorbei, was die Atmosphäre im modernen, vom Architekten Jean Nouvel entworfenen Konzertgebäude trotz festlichen Gepräges spürbar auflockert.

Auch in anderer Hinsicht ist man in Luzern erfolgreich darum bemüht, den Charakter des Festivals als Ort eines nur passiven Kulturkonsums zu verändern und die aktive Auseinandersetzung mit der Musik zu fördern. Dahinter steht die Einsicht, dass mit der herkömmlichen Gastspielroutine, bei dem sich die altbekannten internationalen Stars vier Wochen lang die Klinke in die Hand geben, das Publikum auf Dauer nicht bei der Stange gehalten werden und schon gar nicht ein neues, junges Publikum angelockt werden kann.

Zwei große, langfristig angelegte Projekte, die in diesem Jahr angelaufen sind, markieren diese neue Dynamik des Lucerne Festivals. Das eine ist die an alte Toscanini-Zeiten anknüpfende Gründung des Festspielorchesters, das nun unter der Leitung von Claudio Abbado mit Mahlers Zweiter seinen triumphalen Einstand gab. Es hat eine ungewöhnliche Struktur. Eingebettet in das aus Mitgliedern internationaler Orchester zusammen gesetzte Tutti sind ganze Kammermusikformationen, so das Hagen-Quartett und das Bläserensemble der Klarinettistin Sabine Meyer.

Das andere Großprojekt ist die Lucerne Festival Academy, deren Leitung bei Pierre Boulez liegt. Ihr Konzept ist ebenso einleuchtend wie viel versprechend. Junge Interpreten und Dirigenten studieren in mehrwöchigen Kursen zeitgenössische Stücke ein, dazu kommen noch Komponisten mit neuen Partituren, die sie im Auftrag des Festival schreiben. Gleich zwei Klangkörper, ein Ensemble und ein Orchester, sollen aufgebaut werden. Als Instrumentallehrer wirken die Solisten des Ensemble Intercontemporain, Boulez waltet als Spiritus rector über dem Ganzen, und für nächstes Jahr wird er außerdem Maurizio Pollini zu einer Meisterklasse für zeitgenössische Klaviermusik einladen. Er setzt die Akzente auf Flexibilität, auf möglichst große Gegenwartsnähe und langfristige Planung:

Das muss eine Wirkung haben, aber die stellt sich frühestens in ein paar Jahren ein. Deswegen wird der Unterricht alternieren zwischen Orchestermusik und Kammermusik. Ich finde, es ist interessant, diese beiden Repertoires nebeneinander zu haben. Man reagiert nicht in derselben Weise, man muss sich um andere Dinge kümmern und andere Qualitäten bringen. Das Repertoire wird nicht nur Klassiker der Moderne umfassen wie "Pierrot lunaire" in diesem Jahr, sondern auch Stücke von Berio, von Stockhausen und mir, also Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir sind am Anfang des 21. und wir können nicht dauernd nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts pflegen.

Mit einem Ensemble- und einem Dirigierkurs präsentierte sich die Akademie nun in einer Vorlaufphase erstmals der Öffentlichkeit. Der tägliche Unterricht, flankiert von einem Analysekurs zum besseren Kennlernen der Werke, spielte sich auf konzentrierte und zugleich entspannte Weise ab und bot Gelegenheit, den Musikerzieher Boulez einmal ganz aus der Nähe zu beobachten. Auf freundlich-kollegiale Weise führt er die Studenten zur Realisierung ihrer Vorstellungen. Dabei geht er stets von technischen Aspekten aus und gelangt von hier aus dann sukzessive zu den Fragen der Darstellung des musikalischen Inhalts. Auf seine Unterrichtsmethode angesprochen antwortet Pierre Boulez:

Ich bin immer sehr vorsichtig mit großen Reden über Poetik, Ästhetik usw. Eigentlich muss man alle diese Probleme mit der Hand lösen. Die Hand ist doch das wichtigste Kommunikationselement zwischen dem Dirigent und den Musikern. Ich sage den Studenten immer: "Machen Sie es nicht wie ich es mache, betreiben Sie keine Nachahmung wie ein Papagei. Sie wollen etwas hören, also werden Sie sicher die entsprechende Geste finden. Aber Sie müssen eine Vorstellung haben von dem, was Sie hören wollen und wie Sie es hören wollen. Das ist das Wichtigste." Und sie müssen das Resultat kriegen, das die Partitur verlangt. Es gibt Gesten, die mit Sicherheit nicht gehen, weil sie gegen die Musik sind. Ich forciere also nicht eine Geste, sondern sage immer: "Machen Sie es, wie Sie wollen, aber prüfen Sie das Resultat. Wenn Sie ein anderes Resultat wollen, z. B. mehr Akzent oder mehr Fluktuation im Tempo, machen Sie es. Nur, machen Sie es aus Ihrer Vorstellung heraus und nicht, weil Sie in Panik geraten und vollkommen überfordert sind."

Nicht nur in der Konzeption als praxisnaher Dialog zwischen jungen Interpreten, Dirigenten und – ab nächstem Jahr – auch Komponisten hat diese Akademie den Charakter des Außergewöhnlichen. Auch dass das auf vorerst vier bis fünf Jahre geplante, strikt auf die Gegenwart ausgerichtete Aufbauprojekt im Rahmen eines traditionellen Klassikfestivals stattfinden kann, ist beispiellos.

© Max Nyffeler

(11/2003)
Teile dieses Textes sind in der Neuen Zeitschrift für Musik Nr. 6/2003 (Mainz) erschienen.

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