Bach und Brahms, Messiaen und Tippett

Bericht vom Lucerne Festival zu Ostern 2008

Das Osterfestival in Luzern dauert nur knapp eine Woche und steht damit vom Aufwand her im Schatten des großen Sommerfestivals, das sich über anderthalb Monate erstreckt. Mit seinem intelligenten Programm-Mix aus weltlicher und geistlicher Musik und seinen Weltklasse-Interpreten ist es aber von hoher Attraktivität für ein Publikum, das in der vorösterlichen Zeit nach besinnlicheren Konzertprogrammen Ausschau hält.

Der sakralen Ausrichtung entsprechend nimmt die Vokalmusik naturgemäß einen gewichtigen Platz ein. Das Spektrum reichte diesmal von einem Konzert des fabelhaft konzentriert musizierenden Hilliard Ensemble mit A-cappella-Musik von Palestrina und seinen Zeitgenossen sowie älteren populären Vokalsätzen bis zum weltlichen Oratorium aus dem 20. Jahrhundert: „A Child of Our Time“ von Michael Tippett. Mit Motiven aus der Bibel und orientiert an der Formensprache von Bach und Händel zeichnet das Werk des 1998 verstorbenen Briten die Passion der Juden im Nationalsozialismus nach und bezieht mit seinen stilisierten Negro Spirituals ganz allgemein Stellung gegen Unrecht und Rassismus. Das großformatige, teils von lokalen Nachwuchskräften unter der Leitung von Alois Koch aufgeführte Werk zielt auf Breitenwirkung und ist musikalisch nicht sonderlich ambitioniert, doch als mutige Parteinahme in schwierigen Zeiten – es entstand zu Beginn des Zweiten Weltkriegs – besitzt es den Rang eines Zeitdokuments und war eine Wiederbegegnung wert.

Durch längere Werkzyklen sind die Konzerte zu Ostern thematisch mit dem Sommerfestival und dem Klavierfestival im November verknüpft. Die Gesamtaufführung der Orgelwerke von Olivier Messiaen machte nun ihren Anfang mit einer überaus farbigen Wiedergabe der „Messe de la Pentecôte“ durch Naji Hakim, dem Nachfolger Messiaens an der Orgel von Sainte-Trinité in Paris. Mit den massigen Klangungetümen seiner eigenen Kompositionen und einer freien Improvisation löschte der Interpret den ausgezeichneten Eindruck, den seine Messiaenspiel gemacht hatte, allerdings teilweise wieder aus.

Im Osterfestival begann nun auch ein Beethoven-Zyklus unter Bernhard Haitink, der sich bis 2009 hinziehen und ausschließlich in Luzern zu hören sein wird. Bei seiner vierten Annäherung an die Sinfonien Beethovens hält sich Haitink an die kritische Ausgabe von Jonathan Del Mar, was sich in ungewöhnlich zügigen Tempi und einem schlankeren Klangbild niederschlägt. Das Chamber Orchestra of Europe ist ihm dabei ein idealer Partner. Heftige Blechbläsereinsätze, die in der Fünften für unterschwellige Militanz sorgen, fehlen darin ebenso wenig wie die subtil ausbalancierten Klangmischungen in der Sechsten. Der hohe klangliche Verschmelzungsgrad ist wohl auch der Streicheraufstellung zu verdanken: links auf der Bühne sitzen die ersten Geigen, eingerahmt von Kontrabässen und Celli, rechts befinden sich die zweiten Geigen und Violen. Doch scheint das manchmal die Durchhörbarkeit der Mittelstimmen zu beeinträchtigen.

Die Sinfonien sind stets flankiert von Solistenkonzerten. Während im Tripelkonzert mit Lars Vogt, Frank Peter Zimmermann und Christian Poltéra ein munter, wenngleich etwas unausgewogen musizierendes Solistentrio zu hören war, von dem der Funke nie so recht auf das Orchester überspringen wollte, geriet das Violinkonzert mit Zimmermann zu einer Sternstunde. Das einzigartig gelöste Spiel des Solisten verband sich mit dem leicht und luftig musizierenden Orchester zu einem Gesamtklang von vorbildlicher Transparenz.

Tragende Programmsäulen des Osterfestivals sind die großen oratorischen Werke der Vergangenheit. Dabei kann es dann auch mal zu denkwürdigen Aufführungen kommen wie jetzt bei Bachs Johannes-Passion unter Nikolaus Harnoncourt. Eindringlicher dürfte dieses Werks kaum zu hören sein. Indem Harnoncourt sein Prinzip der „Klangrede“ auf alle Schichten der Komposition übertrug, entwickelte er die Botschaft ganz aus der musikalischen Binnenstruktur heraus, die freilich bis in die letzte Faser vom Textinhalt affiziert ist. Von der expressiv aufgerauhten Streicherfläche im Eingangschor bis zur Schlussnummer, wo der erstaunlich groß besetzte, aber schlackenlos musizierende Wiener Arnold Schoenberg Chor und der Concentus Musicus Wien zu einem Klangtableau von fast überirdischer Heiterkeit verschmolzen, schlug die Interpretation in Bann. Die Solisten, allen voran Michael Schade als Evangelist, hatten daran wesentlichen Anteil.

Die  scharfe musikalische Charakterisierung führte in den schlichten Choralsätzen manchmal an die Grenze zur Überzeichnung, doch bei den theologischen Argumentationen, an denen das Werk reich ist, erwies sich die Methode als überaus fruchtbar. In den polemisch zugespitzten Disputen der Schriftgelehrten, die Bach zu komplexer Kontrapunktik verarbeitet hat, schaukelten sich geschärfter Streicherklang und Sprachduktus gegenseitig hoch, und der Dialog zwischen Jesus und Pilatus wurde von abrupten Pausen unterbrochen, in denen sich ein existenzieller Abgrund auftat. Dass der Gesamtklang konsequent aus den leisen Registern heraus aufgebaut wurde, verlieh der Aufführung bei aller Dramatik einen intimen Charakter.

Rund hundertvierzig Jahre liegen zwischen der Johannes-Passion und dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms, das mit dem Chor und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons einen weiteren markanten Pfeiler im Programm bildete. Dass im katholisch-barocken Luzern die beiden deutschen Protestanten mit zwei geistlichen Hauptwerken so eng auf Tuchfühlung zueinander gebracht wurden, unterstrich den überkonfessionellen Charakter ihrer Musik, verdeutlichte aber auch die Unterschiede in ihrem religiösen Weltbild.

Die rationalistische Lust am Argumentieren, die Bachs künstlerische Imagination noch mächtig beflügelt, ist beim Spätbürger Brahms vollständig einer Haltung der Verinnerlichung gewichen, mit der das subjektive religiöse Erleben ins Erhabene projiziert wird. Hier setzte Jansons mit seiner packenden Deutung an. Im Eröffnungsteil verschmolz er den glänzend disponierten Chor mit dem Orchester zu einem mystischen Gesamtklang, aus dem sich das Werk in einem weiten Bogen entwickelte. Den introvertierten Tonfall von Brahms’ Musiksprache lud er mit verhaltener Intensität auf, für den permanenten Gedanken des Todes fand er eine Palette dunkel leuchtender Farben, die sich beim Blick auf das Jüngste Gericht zum gebändigten Schreckensklang ausweitete.

In einer Matinee mit Filetstücken aus Wagners musiktheatralischem Oeuvre, in der ein Großaufgebot von gut ausgeschlafenen Bläsern brillierte, demonstrierte das Orchester, in welch blendender Verfassung es sich gegenwärtig unter seinem Chef Jansons befindet. Es war ein triumphaler Abschluss des Osterfestivals, den das Publikum mit Standing Ovations quittierte, wenn auch die Widmung dieses Konzerts an Herbert von Karajan, dem Gastdirigenten beim Lucerne Festival während vier Jahrzehnten, nicht ganz ersichtlich war.

© Max Nyffeler 2008

Eine andere Version dieses Textes ist erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.3.2008.

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(März/2008)

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