„Les Amplitudes“ in La Chaux-de-Fonds das Festival mit dem besonderen TouchIm Zentrum standen 2007 der Komponist Salvatore Sciarrino und Schweizer UraufführungenDas Festival „Les Amplitudes“ in La Chaux-de-Fonds, das 2003 von einer Gruppe von Aktivisten um das Nouvel Ensemble Contemporain gegründet wurde und im Biennale-Rhythmus stattfindet, vermag ein erstaunlich zahlreiches Publikum aller Altersklassen zu mobilisieren. Es ist eine vorwiegend lokale Zuhörerschaft. Dass so wenige Auswärtige den Weg hierhin finden, ist keineswegs der mangelnden Attraktivität des Programms zuzuschreiben, sondern wohl vielmehr dem allgemeinen (Im-)Mobilitätsverhalten. Nach La Chaux-de-Fonds fährt "man" nicht, und schon gar nicht aus der deutschen Schweiz. Doch wer so denkt, verpasst einiges. Nicht nur musikalisch, sondern auch von der ganzen Atmophäre her. Eine lockere, unkomplizierte Kommunikation à la française kennzeichnet das sechstägige Festival, zum Essen, Trinken und Schwatzen gibt es im ABC, dem Kulturzentrum an der Place des Brigades Internationales, wo das Festivalbüro untergebracht ist, stets Gelegenheit. Das Unternehmen finanziert sich aus öffentlichen Subventionen, Lotterie- und Sponsorengeldern, und als immaterielle Währung steht der Idealismus der Verantwortlichen hoch im Kurs. Die begrenzten lokalen Ressourcen werden durch intelligente Kooperationen multipliziert. Lebenswichtig ist die Partnerschaft mit Radio Suisse Romande; Espace 2 vergibt Uraufführungsaufträge, zeichnet alle Konzerte auf oder sendet sie live, womit eine breite überregionale Öffentlichkeit entsteht. Einen markanten Schwerpunkt setzt zudem das Gastkonzert mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne, das hohe Interpretationsstandards setzt. Das Programm stellt jedesmal einen international bekannten Komponisten ins Zentrum und gruppiert darum herum Uraufführungen schweizerischer Autoren. Der erste Composer-inResidence war 2003 Luc Ferrari. Ihm folgten 2005 Georges Aperghis und in diesem Jahr Salvatore Sciarrino. Von ihm erklangen nun nicht weniger als neunzehn Werke und Werkzyklen, angefangen von den funkelnden „Notturni“ für Viola und den halsbrecherischen Violin-Capricci aus den siebziger Jahren über das musikalische Stillleben „Vanitas“ (1981) und den Massenevent der „Studi per l’intonazione del mare“ (2000) für rund hundertsechzig Flötisten und Saxophonisten bis hin zu Ensemblewerken neueren Datums wie dem „Quaderno di Strada“. Filme, eine Notenausstellung und Diskussionen mit dem Komponisten ergänzten das Programm. Für erstklassige Aufführungen sorgten nebst zahlreichen einheimischen Musikern international bekannte Solisten wie Sonia Turchetta und Otto Katzameier (Gesang), der Cellist Lukas Fels, die Geigerin Carolin Widmann, die Bratschistin Anna Spina und der Flötist Mario Caroli. Die manchmal noch fehlende Veranstaltererfahrung wird durch eine intelligente Programmdramaturgie mehr als wett gemacht. In einem Konzert mit lauter Solostücken wechselten sich Werke von Sciarrino mit vier Schweizer Uraufführungen ab. In Alfred Zimmerlins „Rezitativ in gebogenem Licht“ führt der Kontrabassist ein leises Zwiegespräch mit den seinem Instrument abgehorchten Klängen. Daniel Glaus schuf für den Akkordeonisten Claudio Jacomucci mit „Bruchstellen II“ ein zwischen Licht und Schatten changierendes Stück, Victor Cordero mit seiner viersätzigen „Sonatina“ eine flötenspezifische Materialetüde. Einfallsreichtum zeigte der Chaux-de-Fonnier Vincent Pellet mit seinem computergestützten Schlagzeugstück „en miniature“, einer witzigen Hommage an die Tiktak-Uhrenkultur seiner Heimatstadt. Abgerundet wurde dieser Uraufführungsreigen durch das Trio „... the memory of love’s refrain“ für Sopran, Viola und Klavier von Mario Pagliarani und die Komposition „Un retour de Cythère“ für fünfzehn Instrumente und Tonband von Jean-Jacques Dünki. Das Schlusskonzert mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne unter der Leitung von Marco Angius, einem ausgewiesenen Sciarrino-Kenner, stellte mit „Vento d’ombra“, „Clair de lune“ und dem geistreich-verspielten „Efebo con radio“ noch einmal den Klangmagier Sciarrino ins Zentrum. Die Stücke wurden kontrastiert durch Mozarts Klavierkonzert d-moll KV 466 mit der Solistin Ariane Haering und eine gewichtige Uraufführung: „Initial“ von Bettina Skrzypczak. Im dramatisch aufgeladenen Wechsel der Raumperspektive und in der vibrierenden Beweglichkeit des Klangs zeigt sich die Handschrift der erfahrenen Orchesterkomponistin, die raffinierte Farbenpalette wird durch eine mikrointervallisch angereicherte Harmonik zum irisierenden Leuchten gebracht. Künstlerisches Potenzial und Informationdichte des Festivals sind respektabel. Wo bietet sich sonst Gelegenheit, Sciarrinos facettenreiches Werk in einer solchen Breite und Vielfalt kennenzulernen, dazu noch sieben neue Schweizer Kompositionen? Die Peripherie entpuppt sich als quicklebendige Kulturlandschaft. Unter diesen Gesichtspunkten erstaunt es, dass „Les Amplitudes“ in Outre-Sarine kaum zur Kenntnis genommen werden. Mangelnde Neugierde oder Angst vor der Konkurrenz? Für jene Alémaniques, gerne neue Erfahrungen machen wollen, deshalb hier ein Reisetip für 2009: auf nach La Chaux-de-Fonds! © Max Nyffeler 2007 |