Donaueschinger Musiktage zwischen Neu und Neo

Viel Playback und ein neues Werk von Ferneyhough in Donaueschingen 2006

Donaueschingen ist immer auch der Ort, wo Preise vergeben werden. Der seit 1955 existierende Karl-Sczuka-Hörspielpreis ging diesmal an Asmus Tietchens  für seine etwas längliche Klangstudie „Trois Dryades“, in der er die Knack- und Knistergeräusche beim Spalten eines Baums in glockenhelle Impulse transformiert. Den vor einem Jahr geschaffenen Orchesterpreis der SWR-Orchesters erhielt Jörg Widmann für „Zweites Labyrinth“ für sechs im Raum verteilte Orchestergruppen; unter der Attacke seiner konturenscharfen Klänge erwacht das in den letzten zwanzig Jahren reichlich strapazierte Raumklangmodell noch einmal zu neuem Leben.

Schade nur, dass am andern Ende der Skala nicht auch ein Preis verliehen wird, etwa der Donaueschingen Trash Award für das dümmste Stück. Gesiegt hätte in diesem Jahr  zweifellos Chris Newman mit seinem Klavierkonzert, in dem Figuren aus gefledderten Mozartsonaten zu einer stumpfsinnigen Dauersuada aneinandergereiht und mit rudimentärer Orchesterbegleitung versehen werden. Für die hoch spezialisierten Musiker des Freiburger Barockorchesters war das unterste Schublade und für das Publikum eine Zumutung; entgegen seiner sonstigen Praxis, alles kritiklos zu beklatschen, rebellierte es ausnahmsweise einmal.

Neobarock

Die Kombination Freiburger Barockorchester plus Ensemble Recherche regte Martin Smolka dazu an, in der Komposition „Semplice“ in bewährter Manier eine dreiviertel Stunde lang seine sanften Klänge auszubreiten. Wolfgang Mitterer liess in seiner Suite „inwendig losgelöst“ den Barocksound immer wieder in elektronischen Schlieren auslaufen und nach dem Prinzip von fast forward und rewind beschleunigen, verlangsamen und repetieren, womit er die Playback-Ästhetik dieses historisierenden Crossover-Projekts genau auf den Punkt brachte.

Playback auch in Mauricio Kagels Farce für Ensemble mit dem Titel „Divertimento?“, in der der Meister auf die Glanzzeiten des Instrumentalen Theaters zurückblickt. Hinter der unterhaltenden Oberfläche gähnt indes der Kagelsche Abgrund. Einem neuen Namen begegnete man im Konzert des Arditti Quartetts. Der Jordanier Saed Haddad überzeugte mit „Joie voilée“ einer narrativ angelegten Komposition von großer Ausdruckskraft, wohingegen ein alter Bekannter, Wolfgang Rihm, mit der raffiniert in den Quartettsatz einbezogenen Sopranstimme in „Akt und Tag“ konstruktive Kühle verbreitete. Grenzüberschreitungen, ein Donaueschinger Markenzeichen, gab es diesmal unter anderem im Jazzkonzert. Dominik Blum, Marino Pliakas und Lucas Niggli von Steamboat Switzerland improvisierten in „Get Out of My Room“ mit kantigen Ostinati über vier kompositorische Module, die ihnen Felix Profos geliefert hatte, das Trio Graewe/Reijseger/Hemingway über eine Vorlage von Earl Howard.

Im Parforceritt des SWR-Sinfonieorchesters mit sieben Uraufführungen in zwei Konzerten gab es – neben Widmann – unter anderem eine ruhelos-geschäftige  „Violinsinfonie“ von Manfred Stahnke, ein klangfarblich subtiles Werk von Nicolaus Richter de Vroe  sowie zwei orchestrale Bizzarrerien: eine mehr geräuschbasierte von Adriana Hölszky und eine lärmig-tonale von Richard Ayres.

Ferneyhoughs Beschwörung des Abwesenden

Das bedeutendste Stück des Festivals erklang im Orchesterkonzert unter der Leitung von Arturo Tamayo: „Plötzlichkeit“ von Brian Ferneyhough. Die Instrumentalpartien, wie immer bei ihm extrem schwierig, haben quasi solistische Qualitäten, doch fügt sich das Einzelne stets zu einem gestenreichen und biegsam durchgeformten Ganzen. Das Wichtigste  scheint aber nicht der elaborierte Orchestersatz selbst zu sein, sondern das, was er verbirgt. Es tritt flüchtig in Erscheinung, wenn die drei fast unhörbar in den Instrumentalklang eingebetteten Frauenstimmen für Sekunden hervortreten – Bruchstellen, Übergänge und Momenten des Innehaltens, in denen sich für einen Augenblick ein Fenster zu einem Anderen öffnet. Ein sprachliches Pendant dazu bildet Ferneyhoughs Programmhefttext, auch er ein Meisterstück des wortreichen Verschweigens. Die Kernaussage wird quasi nebenher formuliert – dass die Musik „die schattige Allgegenwart einer Dimension durch das ständige erneuerte Bewusstsein ihrer Abwesenheit“ übermitteln soll. Ferneyhough situiert das Werk im Umfeld seiner Benjamin-Oper „Shadowtime“, genauer: der zweiten, rein instrumentalen Szene, die mit Les Froissements d’Ailes de Gabriel überschrieben ist und ebenfalls mit den Wahrnehmungsgrenzen spielt.

Eingerahmt wurden die diesjährigen Musiktage von zwei Großveranstaltungen, in denen es um die Darstellung von klanglichen Massenprozessen ging. Zum Auftakt ließ der Amerikaner Alvin Curran die vereinigten Feuerwehrkapellen der Region Donaueschingen auf einer Wiese aufmarschieren. Die über 300 Mitwirkenden lieferten sich eine vergnügliche Klangschlacht, indem sie nach einer genau einstudierten Choreographie mit-, gegen- und durcheinander musizierten: Blech gegen Holz, tief gegen hoch, in frontalem Gegenüber, in Einzelgruppen aufgeteilt und chaotischer Durchmischung. Die Schlagzeugbatterien lieferten dazu den passenden Kanonendonner.

Eine Mehlspeis' zum Schluss

In der Klang-Licht-Installation für Orchester mit dem sehr ambitionierten Titel „Hyperion“, die den Schlusspunkt des Festivals bildete, kaprizierte sich Georg Friedrich Haas auf ähnliche musikalische Massenprozesse, doch er steuerte sie auf andere Weise. Die den Wänden entlang postierten Orchestermusiker reagieren auf die Signale, die ihnen aus einer Lichtinstallation der Bühnenbildnerin Rosalie von der gegenüberliegenden Saalseite entgegenblinken. Ringsum den Saal verläuft ein Band von Lichtpunkten: insgesamt wohl viertausend weiße, lichtdurchlässige Plastikkübel, in deren Innerem verschiedenfarbige Lampen untergebracht sind. Mit diesem Dispositiv erzeugt die Computersteuerung eine eindrucksvolle Lichtsinfonie von blassblau bis grellrot, von verstreuten Einzelpunkten bis zum Flutlichteffekt.

Musikalisch funktioniert das Licht indes wie ein schlechter Dirigent: alle gleich laut und niemand richtig zusammen. Die vorwiegend fortissimo über die Köpfe des herumspazierenden Publikums hinwegschwappenden Klangwogen, mal glatt, mal gezackt, mal an- und abschwellend, verwandelten zusammen mit der Lightshow die Baar-Sporthalle in eine beschauliche E-Musik-Disco. Wenn auch die Dröhnung begrenzt und die Musik zum Abtanzen zu schlapp war: Als sättigende Mehlspeis’ zur Abrundung eines kalorienreichen Donaueschinger Menus war die Produktion allemal am richtigen Ort.

© Max Nyffeler 2006

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(November/2006)

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