Bunte Eintagsfliegen

Bericht von den Donaueschinger Musiktagen 2004

Die kulturpolitische Begleitmusik ist in Donaueschingen manchmal fast so interessant wie das Hauptprogramm. Diesmal war es Bernhard Hermann, Hörfunkdirektor des SWR, der sie anstimmte. Bei der Verleihung des Karl-Sczuka-Hörspielpreises an den australischen Komponisten Jon Rose kündigte er an, dass wegen der ungenügenden Erhöhung der Rundfunkgebühren alle kulturellen Leistungen des Rundfunks nun überdacht würden; er erwähnte dabei ausdrücklich den international renommierten Sczuka-Preis und die beiden Sinfonieorchester in Stuttgart und in Baden-Baden/Freiburg. Was von ihm nicht erwähnt wurde, aber als Gerücht die Runde machte: Das SWR Vokalensemble Stuttgart soll schon abgeschrieben sein.

Der Schreck bei den Zuhörern war groß und vom Redner vermutlich beabsichtigt, war seine Rede doch ein indirekter Appell zur dringend nötigen musikalischen Lobbyarbeit. Das Baden-Badener Orchester, seit 1950 ein Hauptakteur in Donaueschingen, nutzte auch gleich die Situation für  publikumswirksame Aufklärungsarbeit. "Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt": Die alte Gewerkschaftlerweisheit wird bei den Musikern, die sich bisher in ihren Privilegien sonnten, demnächst wohl eine steile Karriere machen.

Das Hauptprogramm war wie immer durchzogen. In Donaueschingen geht es hauptsächlich um Experimente, was oft gleichbedeutend ist mit Eintagsfliegenkultur. Was gestern war und morgen sein wird, ist nicht so sehr von Belang in diesem Festival, das strikt auf die Wahrnehmung des Hier und Jetzt, also auf die unbedingte Gegenwart, ausgerichtet ist. Wo sich musikalische Erfahrung so selbstbescheiden gibt, bleiben außer der von Heinz-Klaus Metzger einst spitz formulierten Frage "Musik wozu?" kaum noch Fragen, geschweige denn Geheimnisse übrig. Was nicht ausschließt, dass die Welt des Wahrnehmungskurzweils hin und wieder mit einer netten Überraschung aufwartet.

Einfallsreiches Propädeutikum, souveränes Alterswerk

Das war diesmal der Fall bei der großangelegten Raumklangaktion des erweiterten Ensemble Modern.  Die 48 Musiker schwärmten neunzig Minuten lang in wechselnden, präzis einstudierten Aufstellungen quer durch das Publikum aus und erzeugten auf meist selbstgebastelten Klangerzeugern das wunderlichste Pfeifen, Sausen und Brausen. Ein Blasrohr klingt nach nichts, in 48-facher Addition jedoch wächst ihm die Gewalt eines Orkans zu. Erfunden und choreografiert hat das Ganze der Engländer Benedict Mason, der schon einmal mit einer originellen Fußballoper aufgefallen ist. Das Spektakel war ebenso hingebungsvoll aufgeführt wie komponiert, zurück blieb aber doch der Eindruck einer einfallsreichen Materialpräsentation, die da aufhört, wo Musik eigentlich beginnen sollte.

Das zweite Großereignis waren Karlheinz Stockhausens nur halb so lange, aber dafür umso dichtere Licht-Bilder, ein Teil aus Sonntag, mit dem sich der monumentale Licht-Zyklus nun schließt. Trompete, Flöte, Bassetthorn und ein Tenor (Hubert Mayer) produzierten in phänomenaler Konzentration weit ausholende, ringmodulierte Stimmverläufe. In der bruchlosen Synthese von strenger Konstruktion und Ornament zeigt sich die Pranke des erfahrenen Meisters. Mit der schon fast unnahbaren Souveränität der musikalischen Gestaltung kontrastieren die hinlänglich bekannten, formelhaften Choreografien der Interpreten. Wir warten freudig auf den Tag, da diese Kinderreigen-Ästhetik überwunden sein wird und sich der gewaltige Bilderreichtum von Stockhausens Musik ungegängelt entfalten kann.

Zauberwort Konzertinstallation

Nicht nur für ein inszeniertes Konzert wie bei Mason, auch für die in Donaueschingen heimisch gewordenen Klanginstallationen hat Festivalleiter Armin Köhler seinen Lieblingsbegriff "Konzertinstallation" nun zur quasi offiziellen Gattungsbezeichnung erhoben; mit seiner kontinuierlichen Programmpolitik hat er ihn zudem weitgehend als Trendmarke durchgesetzt. In diesem Umfeld bewegt sich auch Terra Incognita für Ensemble, Stimme und Videoprojektionen von Gerhard E. Winkler. Das Spiel nach einer auf Laptopmonitoren sich laufend neu generierenden "Echtzeitpartitur", das er schon mit seiner «interaktiven Oper» Heptameron praktizierte, erweiterte Winkler nun um einen Projektionsraum mit virtuellen Grafiken und die Möglichkeit der Einwirkung durch das Publikum. Winkler hat für sein Software-Komponieren viel Prügel eingesteckt, eines kann man ihm aber nicht vorwerfen: mangelnde Konsequenz bei der Umsetzung seiner Ideen.

Auch die Drei Räume Theater Suite, die Manos Tsangaris, der subtile Miniaturist und Figurative unter den Komponisten, in den Verließen und Nischen der einstigen Hofbibliothek inszenierte, lief unter dem Etikett "Konzertinstallation". Für die heruntergekommenen Räume schuf er eine Reihe von geisterhaften Genrebildern mit lebenden Darstellern – skurril-verschwiegene Narrationen mit einem Hauch von E. T. A. Hoffmann, zu erwandern bei flackerndem Lichtschein und knarrenden Dachbodendielen.

Eine indonesische Musikergruppe präsentierte erstmals in Donaueschingen so etwas wie neue Musik aus Indonesien. Mit den denaturierten Klängen von Blas- und Schlaginstrumenten klang manches wie die europäischen Improvisationsmodelle der sechziger Jahre, nur viel frischer und dialogisch zwingender. Da das absolut Fremde beim einmaligen Hören schwer zu begreifen ist, drängen sich solche Eselsbrücken zwangsläufig auf, zumal es sich hier offensichtlich um Beispiele eines relativ verwestlichten Musizierens handelte. Die zwei dazwischen platzierten Uraufführungen von Salvatore Sciarrino und Pierluigi Billone sorgten mit ihren vertrauten Gesten für eine zusätzliche, produktive Irritation.

Der schwierige Umgang mit dem Sinfonieorchester

Die zwei Konzerte des SWR Sinfonieorchesters unter Roland Kluttig und Hans Zender spiegelten das Spektrum des heutigen Orchesterkomponierens, das vom beherzten klanglichen Zugriff bis zum ratlosen Herumstochern in der für viele offensichtlich schwer zu beherrschenden Materie reicht. Vom Zender-Schüler Daniel Smutny war unter dem Titel Xade eine kraftvolle, in ihren sinfonischen Reminiszenzen mitunter etwas teutonisch auftrumpfende Talentprobe zu hören. Michael van der Aa versuchte in Second self eine psychologisierende Grundspannung zwischen Tutti und kleineren Gruppen aufzubauen. sich verräumlichend von Jörg Herchet driftete wegen mangelnder formaler Konsistenz während der dreiviertelstündigen Dauer zunehmend ins Leere ab. Andreas Dohmens Lautung für Orchester und fünf Solostimmen konnte sich aus der Kopflastigkeit der ganzen Anlage nicht richtig befreien, glänzte aber an der Oberfläche durch schillernde Vokal/Instrumentalmischungen. In ihrer halbstündigen Komposition miniata zielt Rebecca Saunders auf große Form und komplexe Klangaggregate; einen eigenen, glaubwürdigen Ton hat sie damit aber noch nicht gefunden.

Lädt der Nimbus von Donaueschingen die Komponisten ein, Dinge zu tun, die sie eigentlich gar nicht wollen? Dass es auch anders geht, hörte man im Jazzkonzert bei Cecil Taylor. Von seiner vulkanischen Emotionalität, gepaart mit technischer Brillanz und hellwacher Kontrolle, könnte sich mancher Konzeptionalist und Partiturenschreiber eine Scheibe abschneiden.

© Max Nyffeler
Printversion: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 6/2004

News: Übersicht

(10/2004)

Home