Donaueschinger Musiktage 2008:
Es sind nicht immer die alten Stücke, die alt aussehen

Aktueller Bericht vom Eröffnungsabend am 17. Oktober 2008

Die Donaueschinger Musiktage finden zwar weitab von urbanen Zentren, auf der Hochebene hinter den Schluchten und Bergketten des Schwarzwalds statt, doch abgekoppelt von aktuellen Einflüssen sind sie nie. Ob gewollt oder per Zufall, die politischen Stimmungen draußen in der Welt schwappen stets in irgendeiner Form in die Programme hinein. Diesmal geschah das gleich zum Auftakt. Punkt halb sieben am Freitagabend gab’s Frontalunterricht im Kampf gegen den US-amerikanischen Imperialismus.

Dror Feilers Denkmal für den dümmsten Guerillero der Welt

Dror Feiler, bekannt für seine phonstarken Blitzkriege gegen das Publikum, projizierte Abschnitt um Abschnitt, Satz und Satz die „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ von Bertolt Brecht auf die Wand. (Aufgepasst, Komponist: Brechts Vorname schreibt sich mit einem harten „t“ am Schluss.)  Die Anweisungen an die sozialistischen Medienarbeiter und solche, die es werden wollen, wurden von einem Gemisch von elektronischen und instrumentalen Geräuschen unterlegt. Das wirkte eher sekundär neben der zeichenstarken verbalen und optischen Botschaft. Zwischen die englischsprachigen Textblöcke – im Zeitalter der Globalisierung bedienen wir uns natürlich der Sprache des Klassen- und Menschheitsfeindes – waren  Originalaufnahmen aus einem Guerilla-Trainingscamp im kolumbianischen Dschungel geschnitten, in denen Uniformierte beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters im monotonen Singsang ihren antiimperialistischen Katechismus herunterleiern – gesichtslose Individuen, die nur von hinten gefilmt wurden. Gewidmet war das Opus den Leuten um den FARC-Kommandanten und Entführungsgangster Raul Reyes, der den Titel des dümmsten Guerrillero der Welt redlich verdient hat, ließ er sich doch kürzlich von der CIA per Email zur Freilassung seiner kostbaren Geiseln übertölpeln.

Sein Vademecum des intellektuellen Klassenkampfs schrieb Brecht 1938, als die nie richtig funktionierende bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland zwischen Kommunismus und Faschismus endgültig aufgerieben war und die Demokratieverächter beider Lager einander kampfbereit gegenüberstanden. Das Wort sollte zur Waffe im Kampf gegen den Nazimus eingesetzt werden, wobei sich der Dichter für vereinfachende Zuspitzungen nicht zu schade war. Die Wahrheit schrumpft zur eindimensionalen Aussage und befindet sich natürlich im Besitz der Arbeiterklasse und ihrer Partei, Privateigentum ist an Folter gebunden und deshalb verbrecherisch.

Diesen stalinistischen Direktsprech heute mit identifikatorischer Absicht dem Publikum zuzumuten und den Kampf der Dschungel-Desperados gegen „den Imperialismus“ – gemeint sind selbstverständlich in erster Linie die USA und dann Europa – bruchlos in die Tradition des Kampfs gegen den Faschismus einzureihen, zeugt von einem stattlichen demagogischen Potenzial. Ein Begriff wie Demokratie kommt in Feilers manichäischer Weltsicht nicht vor, seine Sympathie gilt dem naiven Jüngling mit der Maschinenpistole an der Schulter, der wie der heutige islamistische Terrorist von der Belohnung im Jenseits durch weibliche Wesen schwafelt.

Diese neosozialistische Drittwelt-Revolutionsromantik passt indes vortrefflich in die neudeutsche Stimmungslage, und der grenzenlos tolerante Donaueschinger Durchschnittsbesucher lässt alles freundlich über sich ergehen. Vermutlich deutet er es als Retourkutsche für die Finanzgauner der Wall Street und gibt klammheimlich dem Finanzehrenmann Lafontaine recht. Dass der als Aufsichtsrat der staatlichen KfW Teil des Misswirtschafts-Systems ist, stört dabei nicht. In der warmen Stube der neuen Musik möchte man auf ein bisschen Revolution nicht ganz verzichten, und da war die Anfängerlektion in der Halle B gerade der richtige Appetizer.

Besuch aus der Fremde: Der putzmuntere Pierre Boulez

Musikalisch los ging es an diesem ersten Donaueschinger Abend aber erst nebenan in Halle A. Hier gab anschließend das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg das Eröffnungskonzert unter der Leitung von Pierre Boulez. 1959, vor einem halben Jahrhundert, hatte der inzwischen 83-jährige, noch immer putzmuntere Altavantgardist als Einspringer für Hans Rosbaud seinen Einstand in Donaueschingen gegeben.

Nun dirigierte er drei Uraufführungen von Komponisten der nächsten Generation und seine eigenen „Figures – Doubles – Prismes“, komponiert 1957 und, wie bei ihm üblich, bis heute mehrfach revidiert. Die fünfziger Jahre hört man dem Werk deutlich an. Es ist von einer ungeheuren Informationsdichte, die strukturelle Detailarbeit sorgt für beeindruckenden Facettenreichtum, aber auch für Kurzatmigkeit. Die aus der formalen Strategie abgeleitete Aufteilung des Orchesters in kleinere Instrumentalgruppen erzeugt einen enorm differenzierten, aufgefächerten Gesamtklang, der selbst für einen brillanten Schlagtechniker wie Boulez nicht so leicht zu koordinieren ist. Die Schlaginstrumente, die eine prominente Rolle spielen, sind immer dann am besten, wenn sie wie die Metallophone in den Orchesterklang bruchlos integriert sind und zusätzlichen Glanz in die Orchesterfarben bringen; die Fellinstrumente hingegen verströmen manchmal jenen spröden Knallerbsen-Charme, der für die rationalistische Rhythmik der seriellen Partituren der fünfziger Jahre charakteristisch ist. Das Werk verriet die Handschrift eines Komponisten, der seine Mittel souverän und absolut zweckgerichtet einzusetzen versteht.

Fabián Panisellos Phyiognomien

Ihm vorangestellt waren die drei Uraufführungen. Den Beginn machte das Orchesterstück „Aksaks“ des 1963 in Buenos Aires geborenen, heute in Spanien lebenden Fabián Panisello, der laut Programmheft zu den führenden Persönlichkeiten in Madrids Musikleben gehört. Es ist eine sauber herunterkomponierte Musik, mehr geschwätzig als inspiriert, der man anmerkt, dass sich der Komponist bemühte, jedem der fünf Sätze seine eigene Physiognomie zu verpassen. Im kurzen dritten Satz, einer Art Scherzo, jagt er Boulez durch ein Gestrüpp von Taktwechseln, was dieser mit der ihm eigenen Virtuosität indes problemlos bewaltigt. In der stumpfen Akustik der Donauhalle verpufften aber auch solche akrobatischen Zwischenspiele ziemlich glanzlos.

Enno Poppe wildert im Altbau 

Den beliebten Test auf die schlagtechnische Standfestigkeit des Dirigenten machte daraufhin auch Enno Poppe. Die ganze erste Hälfte seines zweiteiligen Orchesterstücks „Altbau“ ist ein irrer Parcours durch asymmetrische Metren. Stellenweise wirkt dieser Abschnitt wie ein bizarr zugespitzter Schlusstanz aus Strawinskys „Sacre“. Vielleicht das ja der Altbau, aus dem Poppe hier einiges abmontiert hat. Mehrfach hört man instrumentale und satztechnische Topoi aus diesem Werk und aus den „Symphonies à vent“ aufblitzen, von den Bläsermixturen über signifikante Streicherfarben bis zum Fagott in Altlage zu Beginn des zweiten Teils.

Die komisch schwankenden, langgezogenen Wellenfiguren der Posaunen, mit denen sich der Komponist am Schluss aus seinem Altbau davonschleichen will, überzeugen jedoch nicht so richtig. Mit diesem schlawinerhaften Marthaler-Gestus hat Poppe schon die nicht enden wollende Schlussszene seiner Oper „Arbeit Nahrung Wohnung“ zur Qual werden lassen. An das instinkthafte Timing und die Präzision, mit der der Regisseur seine scheinbar formzersetzenden Ideen ästhetisch realisiert, kommt er bisher nicht heran, und seine vielfach originellen Ideen fransen dann in der banalen Klangwirklichkeit aus. Insgesamt sorgte das Stück aber für eine erfrischende Abwechslung nach der matten Vorstellung Panisellos.

Dialog als Einbahnstraße: Isabel Mundrys Klangprojektionen

Die dritte Uraufführung war Isabel Mundrys Komposition für Klavier und Orchester „Ich und Du“. Der beziehungsreiche Titel spielt natürlich auf den Dialogcharakter des traditionellen Solistenkonzerts an, doch hier ist die Kommunikation wesentlich eine Einbahnstraße: Der überlegt und präzis agierende Thomas Larcher gibt am Klavier einen Akkord, eine Tongruppe oder ein Saitengeräusch vor, das Orchester greift den Gedanken auf, fächert ihn farblich auf und setzt ihn mal kürzer, mal länger fort. Auf A folgt mit eiserner Konsequenz B, und wenn dieses B auch durchaus abwechslungsreich ist und instrumentaltechnische Fantasie verrät, so wirkt die Struktur der Kommunikation auf Dauer leicht schematisch und spannungslos, zumal die Klavierimpulse sich in einer emotional wohltemperierten Mittellage artikulieren, die jede Aufregung von Anfang an ausschließt. Der Schluss wirkt entsprechend ratlos – das Stück könnte beliebig weitergehen oder auch nicht.

Projektionen des Ichs können sich bekanntlich ins Uferlose fortsetzen, aber vielleicht lässt sich das Verhältnis von Ich und Du doch nicht einfach auf diese fiktive Weise definieren. Und vielleicht könnte man ja auch einmal die Reihenfolge umkehren.

© 2008 Max Nyffeler
Veröffentlicht am 18.10.2008, 11:00 Uhr

siehe auch: farc.de (Beckmesser-Kolumne 12/2008)

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