Münchener Biennale für neues Musiktheater 2004

Fünf Uraufführungen von Qu Xiao-song, Johannes Maria Staud, Vykintas Baltakas, Marc André und Brian Ferneyhough

"In die Fremde" hieß das Motto der diesjährigen Münchener Biennale für neues Musiktheater, die am 28. Mai zu Ende ging und in zweieinhalb Wochen insgesamt fünf Uraufführungen präsentierte. Eine der fünf Produktionen führte im wörtlichen Sinn in die Fremde, nämlich in den fernen Osten: Der Einakter "Versuchung". Er entsprang der Zusammenarbeit zwischen dem chinesischen Komponisten Qu Xiao-song und der Zeitgenössischen Oper Berlin und war damit ein genuines Kulturen übergreifendes Experiment. Die andern vier Auftragswerke stammten von europäischen Autoren. Diese verstanden die Thematik mehr im metaphorischen Sinn als Fremdsein der Welt und sich selbst gegenüber.

Es war die neunte Biennale und bereits die vierte unter dem Intendanten Peter Ruzicka, der das Festival 1998 von seinem Gründer und vorherigen Leiter Hans Werner Henze übernommen hatte. Während Henze ein pluralistisches Konzept mit einer Tendenz zum narrativen Musiktheater verfolgte, setzt Ruzicka ganz auf das Experiment und die Suche nach neuen Ausdrucksformen in musikalischer, dramaturgischer und technischer Hinsicht. Der Jahrgang 2002 stand zum Beispiel unter dem Motto "Oper als virtuelle Realität", und eine Hauptrolle spielte der Computer – nicht nur in der Musik, wo derlei ja nichts mehr Neues ist, sondern auch auf der visuellen Ebene mit der Erzeugung von virtuellen Bühnenbildern.

Bereits bei der Musiktheaterbiennale 2000 hatte Peter Ruzicka auch den manifestartigen Leitspruch von der "Zweiten Moderne" lanciert, der seither das Gesicht aller Produktionen unterschwellig prägt. Er wollte damit eine mögliche Langzeitperspektive nicht nur für das Festival, sondern für die Entwicklung der neuen Musik überhaupt vorgeben. Wie er auch jetzt wieder bekräftigte, versteht er dieses Motto ganz direkt als eine Gegenposition zu den Auffassungen der Postmoderne:

Das Thema der "Zweiten Moderne" bleibt aktuell und wichtig, denn wir haben keineswegs die musikgeschichtliche Phase der Postmoderne bereits verlassen. Ich denke, wir befinden uns noch mitten darin. Wir haben Erscheinungen der Vervielfältigung von Chiffren und Zeichen, von Bezugssystemen, die aufeinander verweisen, und manchmal den Eindruck des ziellosen Kreisens der neuen Musik. Wenn es gelingt, da und dort Ausbrüche zu erreichen, wenn ein Vorne wieder erkennbar wird, wenn der Begriff des Fortschritts oder der musikalischen Avantgarde sich wieder sinnvoll ausmachen lässt, dann haben wir, glaube ich, den richtigen Weg. Deshalb sind einige der Werke, die wir hier vorstellen, schon richtig platziert. Wir werden darin auch weiter fortschreiten. 2006 wird es bei der zehnten Biennale um fünf große Werke gehen, die um Begrifflichkeiten wie Widerstand, Widerständigkeit, Nichteinverständnis kreisen. Ich denke, das gehört mit zu einer recht verstandenen "Zweiten Moderne", die ja nicht nur die Verfügbarkeit über alle Materialien haben will, sondern auch von der Sinnstellung her neue Wege weisen will und auch die Frage des gesellschaftlichen Standorts der Komponisten neu stellt.

Es geht also weiterhin vorwärts in München, und das nicht nur in programmatischer, sondern auch in finanzieller Hinsicht. Die Mittel für 2006 hat die Stadt bereits zugesagt, und auch die längerfristige Perspektive sieht nach Auskunft Ruzickas gut aus.

Man weiß hier bei den politischen Parteien, und zwar bei allen Parteien des Stadtrates, um die Bedeutung der Biennale auch als Kontrapunkt innerhalb des Münchner Kulturlebens, als ein Ort, wo fortschrittliche musikalische Resultate auch einem breiten Publikum vorgestellt werden können. Da bin ich sehr glücklich darüber, dass dies so einvernehmlich geschieht, auch dank der Kulturreferentin, die sich das Projekt zu eigen macht – das insgesamt ja recht kostspielig ist, das muss man sagen, bei einem Etat von insgesamt rund zwei Millionen Euro, aber das einfach wichtig bleibt. Und dass dem so ist und dass es weltweit registriert wird, zeigt sich an der Fülle der Koproduktionen, die wir in diesem Jahr haben. Noch nie hat es so viele Zusammenarbeitsformen gegeben. Diesmal gehen die Produktionen zum Beispiel nach Paris, London, Shanghai, nach New York – "Shadowtime" von Brian Ferneyhough –, und das scheint zu zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind mit unseren Fragestellungen.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings in diesem entgegen allen Negativtrends prosperierenden Unternehmen. Das Bayerische Fernsehen, das bisher stets eine Produktion aufgezeichnet hat, kündigte die Kooperation mit fadenscheiniger Begründung auf.

Das scheint mir nicht so sehr an Einsparauflagen der Sendeanstalten zu liegen, sondern an einem inhaltlichen Dissens. Jedenfalls mit der neuen Programmdirektion gibt es keine Einigung über die geplante Aufzeichnung von Brian Ferneyhoughs sehr wichtiger Oper "Shadowtime". Wir möchten das im Herbst noch einmal neu diskutieren im Rahmen der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, wo wir über die ganze Problematik des Quotendenkens und der damit verbundenen Probleme gerade auch für die neue Musik und die Institutionen der neuen Musik sprechen müssen.

Nicht nur das Fernsehen, sondern auch der Rundfunk, der bisher stets Mitschnitte machte, glänzte in diesem Jahr durch Abwesenheit. Sehr zum Leidwesen der zahlreichen Radiomitarbeiter unter den rund 160 Kritikern aus aller Welt, die sich diesmal wieder zur Biennale einfanden. Wo sie früher vom Rundfunk technisch einwandfreie Klangbeispiele erhielten, mussten sie sich nun ihre Tondokumente aus dem Publikum heraus von Hand selbst aufnehmen.

Qu Xiao-song: Versuchung

Der Einakter Versuchung des Chinesen Qu Xiao-song war von allen Biennale-Produktionen am deutlichsten in einer traditionellen Erzählweise verwurzelt, was ihr keineswegs zum Nachteil gereichte. Das hängt mit dem Stoff und seiner Herkunft zusammen. Der 51-jährige Qu, der heute in Shanghai Komposition unterrichtet, wurde als Jugendlicher während der Kulturrevolution aufs Land verfrachtet und lernte dort die alten Volksmusiktraditionen kennen; später studierte er am Konservatorium von Beijing Komposition, von 1989-99 hielt er sich in New York auf.

Seine jetzige Arbeit ist bereits die zweite, die in Zusammenarbeit mit der Zeitgenössischen Oper Berlin entstanden ist. Als Vorlage wählte er ein klassisches chinesisches Theaterstück, das ihm die Librettistin Wu Lan für die Musikbühne aufbereitete: Die Geschichte von Zhuangzi, einem Meister des Dao, der von seinem Heimweg abkommt und in der Unterwelt landet, wo er dem König des Totenreichs begegnet. Dieser fordert ihn auf, sich auf das Jenseits vorzubereiten, indem er die Nichtigkeit des Ruhms und der Liebe erkennen lerne. Im Traum erscheint ihm seine Frau, die seinen Tod nur kurz betrauert und sich dann mit seinem Schüler verbindet. Wieder zurück im Leben weiß Zhuangzi, dass er nun vorbereitet ist für das Jenseits.

Diese Parabel über die Versuchungen des Lebens erzählt Qu's Oper mit den Mitteln des klassischen chinesischen Kungshu-Theaters. Dramaturgisch geschickt hineinmontiert in die Geschichte ist die Figur eines Schamanen aus der volkstümlichen Theatertradition. Sie lockert das Geschehen mit viel Komik auf und setzt mit ihrer gestenreichen, magisch-bunten Erscheinung einen markanten Kontrapunkt zu den verinnerlichten Monologen und Dialogen der Hauptfiguren.

Die Regisseurin Sabrina Hölzer, Mitglied im Leitungsteam der Zeitgenössischen Oper Berlin, und ihr Ausstatter Etienne Pluss fanden für die mit knappen Mitteln erzählte Geschichte eine ideale Lösung. Die auf klare geomoetrische Flächen reduzierte Spielfläche, um die herum die Musiker gruppiert waren, konnte mit wenigen Veränderungen und Lichtwechseln sich von der Unter- zur Oberwelt und umgekehrt verwandeln. Die Bewegungen der Figuren waren stark stilisiert und damit vermutlich nahe an der chinesischen Theaterpraxis angesiedelt.

Vor der Inszenierung hatte sich Sabrina Hölzer längere Zeit in China aufgehalten und das dortige Theater aus der Nähe studiert. So kam ein in jeder Hinsicht staunenswerter Brückenschlag zwischen zwei Weltkulturen zu Stande, künstlerisch überzeugend und weit entfernt von allem dubiosen Crossover, wie er heute von den Medienmultis propagiert wird.

Der Brückenschlag gelang auch auf der Ebene der musikalischen Einstudierung. In der Partitur stehen vier chinesische Instrumentalisten sieben europäischen Streichern und drei Schlagzeugern gegenüber. Dazu kommen vier chinesische Sänger/Schauspieler. Die Koordination war nicht gerade einfach, sagt Rüdiger Bohn, Dirigent und musikalischer Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin:

Die besondere Herausforderung dieser Produktion lag darin, die verschiedenen chinesischen Theatertraditionen zu verbinden, die hier zum ersten Mal aufeinander geprallt sind. Und da darunter zwei Chinesen sind, die weder eine fremde Sprache gelernt haben noch Noten lesen können noch je in ihrem Leben einen Dirigenten gesehen haben, war das eine ganz spezielle Herausforderung für mich. Man musste das ihnen immer wieder vorsingen, ihnen dann die Bewegung zeigen, die man macht - was welche Bewegung bedeutet. Dadurch war ich gezwungen, auch mich selbst zu prüfen und neu dirigieren zu lernen: Wie dirigiert man eine Musik, die ohne Schemata auskommt? Wichtig für diese Darsteller war ja nicht nur zu zeigen, wann sie anfangen sollen, sondern auch wann sie Silben trennen müssen, wann ein bestimmter Laut zu Ende ist, und das kann ja auch auf schlechten Zeiten sein, so dass man also mitten im Takt dann heftige Impulse geben muss, damit die Sänger dann folgen. Das war ein sehr langer und auch anstrengender Weg. Vor allem mit unserem Darsteller des Schamanen, der dazu ein verträumter, sehr kindlicher, wundervoller Mensch ist.
Wir haben fünf Wochen ohne Orchester gearbeitet, wobei der Komponist mit dem Schamanen jeden Tag gearbeitet hat. Wirklich jeden Tag, einschließlich der Sonntage, und noch vor der Vorstellung, nachmittags, mit ihm nochmals alles durchgegangen ist, zusammen mit dem Flötisten.
Die Darsteller in China improvisieren vor allem. Also auch er improvisiert in seiner Theatertradition, und dann wird er begleitet von Musikern. Das heißt, die Musiker richten sich nach ihm. Hier richtet sich aber nicht die Musik nach ihm, sondern er muss sich nach der Musik richten, in den Bewegungen und natürlich auch im Gesang. Das muss für ihn eine unglaubliche Erfahrung gewesen sein. Mal abgesehen von der Erfahrung, plötzlich in Europa zu sein und wegzufliegen.
Dazu kommt die ganze Ebene der traditionellen chinesischen Instrumente. Wir hatten vier chinesische Musiker mit ihren Instrumenten eingeflogen, die auch zum Teil kein Englisch konnten, so dass wir immer übersetzen mussten. Glücklicherweise ist Wu Lan, die Librettistin, jemand, die sehr gut Englisch spricht und die sehr gut kommuniziert. Sie hat uns sehr geholfen. Ohne sie wäre das in dem Maße gar nicht möglich gewesen.

Nicht nur die chinesischen Darsteller und Musiker hatten viel Neues zu lernen bei dieser Koproduktion, sondern auch die Europäer. Rüdiger Bohn:

Für mich war die es eine wichtige Erfahrung, dass diese Musik in großen Teilen durch den Klang bestimmt wird. Die Entwicklung eines Klanges, eines Tones geschieht aus dem Nichts in den Klang hinein, geht bis zu einem bestimmten Punkt, ebbt dann wieder ab und verschwindet wieder im Nichts. Als Dirigent höre ich vor allem auf den Klang, wie er sich entwickelt, woher er kommt, und wann er wieder geht. Dadurch entsteht ein großer Atem und eine ganz eigene Zeitlichkeit, die jeden Abend auch ein wenig anders sein wird. der Komponist gibt zwar Tempi an, sehr vage, die über weite Strecken sehr langsam sind, also das Viertel zwischen 35 und 40. In diesem "vagen Raum" bewegt man sich als Dirigent, man lauscht dem Klang nach und wird durch den Klang geführt, und natürlich führt man auch den Klang.
Dann versteht Xiao-song sehr viel von Atmung. Er ist da ein typischer Chinese, der sich mit Bewegung sehr beschäftigt hat und das ganze Stück über den Atem, über Ein- und Ausatmung, denkt. Und das spürt man. Das war etwas völlig Neues für mich. Aber das habe ich sehr gern angenommen, weil man da auch für unsere Musik sehr viel profitieren kann, vor allem natürlich wenn man mit Sängern arbeitet.

Aus der Sicht des chinesischen Komponisten sieht die Sache noch einmal anders aus. Qu Xiao-song ist sich der Unterschiede zwischen der europäischen Oper und dem chinesischen Theater mit seinem musikalisierten Sprechen genau bewusst. Sein Bühnenwerk siedelt er irgendwo dazwischen an.

Die westliche Oper wird immer von einem Komponisten komponiert, es ist mehr eine musikalische Form. Der Komponist kann den Zeitverlauf und den dramatischen Verlauf bestimmen. Doch die traditionelle chinesische Oper zieht mich mehr an. Das Singen ist dort nur eine Sache, die Darsteller sind Schauspieler und nicht Sänger. Ihr Sprechen ist kein Rezitativ in der Art der westlichen Oper, sondern ein übertriebenes Sprechen. Das hat mit der Dynamik, den Farben, der Artikulation zu tun. Aber es ist kein Singen. In der chinesischen Oper ist Musik also nur ein Teil des Ganzen. Der Komponist hat keine so große Bedeutung. Er kann den Rhythmus, das Timing des Ganzen nicht beeinflussen. Was nun meine Rolle als Komponist in diesem Stück angeht, so bin ich in der Lage, die Qualitäten beider Traditionen zu erkennen. Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit erhalten habe, beides miteinander zu verbinden. Es gibt beiden Traditionen einen neuen Körper, ein neues Leben. (Übs. M.N.)

Versuchung von Qu Xiao-song überzeugte als schön gerundetes, spannend erzähltes Musiktheater. Es faszinierte gleichermaßen durch die Zeitlosigkeit des tiefsinnigen Sujets, die einfühlsame Inszenierung und die gelungene Synthese zweier Theatertraditionen, die neue Perspektiven einer interkulturellen Zusammenarbeit aufzeigte.

Vykintas Baltakas: Cantio

Ebenso vom Rand unseres bisherigen kulturellen Horizonts, wenn auch nicht aus so weiter Ferne, stammte eine andere Produktion der Münchener Musiktheaterbiennale: Cantio des litauischen Komponisten und Dirigenten Vykintas Baltakas. Trotz seines Titels war das Werk über weite Strecken mehr im Theater als in der Musik verankert, eine Eigenschaft, die es – bei allen stilistischen Unterschieden – mit dem chinesischen Beitrag gemeinsam hatte. Auch im lang dauernden, kollektiven Arbeitsprozess bestehen gewisse Ähnlichkeiten. Der 34-jährige Litauer wollte kein fertiges Libretto vertonen, sondern entwickelte Idee und Stoff seines Stücks gemeinsam mit der Librettistin Sharon Lynne Joyce. Baltakas wollte von ihr keinen Text mit konkretem Inhalt, sondern ein Textmaterial, das der freien Assoziation weite Räume öffnen sollte.

Ich wollte keine Musik schreiben für irgend welche Texte, zu denen ich keinen Zugang habe, und ich könnte mir auch nicht vorstellen zu diesen Texten zu singen, etwa (singt:) "Jetzt möchte ich gerne Kaffee haben." Das ist irgendwie schon Verfremdung. Ich denke, die Geschichte muss aus der Musik entstehen – oder mehr noch, sondern mit der Musik zusammen. So ein Pingpong.

Aus diesem Pingpong mit der Librettistin kristallisierte sich schließlich nach Auskunft des Komponisten eine sehr vage Thematik heraus, um die das Stück seine traumhaften Kreise zu ziehen begann: Die Menschen nehmen Abschied von den Göttern, die die Stadt verlassen. Die Idee geht zurück auf antike Abschiedhymnen, wie sie vom griechischen Dichter Menander überliefert sind. Noch vor der Fertigstellung von Libretto und Komposition stieg dann auch der Regisseur Oskaras Korsunovas in die Zusammenarbeit ein, so dass das Werk sich weiter veränderte. Text, Musik und Szene erhielten erst bei den Proben in München ihre endgültige Gestalt. Ein Verfahren, das sicher nicht nach jedes Veranstalters Geschmack ist, aber den Vorteil hat, dass dem Endprodukt die kraftvolle Dynamik eines unabgeschlossenen Prozesses innewohnt. Die Uraufführung bot denn auch ein überaus vitales Theater mit einer virtuos aufeinander eingestimmten Truppe, in dem, von den Instrumenten untermalt, vielstimmig gesprochen, geflüstert, geschrien und geschnauft wurde.

Das Bühnenbild zu "Cantio" bestand nur aus einem von altem Wohnungsgerümpel zusammengebauten Würfel mit zahllosen Öffnungen, Fensterklappen und veränderlichen Durchblicken. In diesem kompakten Labyrinth und darum herum entwickelte sich ein komplexes System von Textkontrapunktik, Bewegungsabläufen und Lichtwirkungen. Gesungen wurde über weite Strecken überhaupt nicht.

Erst gegen Schluss dieser mit Cantio betitelten kollektiven Theaterarbeit treten drei Sänger auf die Bühne, und hier zeigt Baltakas auch, dass er ausgezeichnet für die Stimme zu schreiben versteht. Nach der turbulenten Bühnenaktion hat der Gesang etwas Befreiendes. Er öffnet den weiten Blick ins Ungewisse, in die jenseitigen Dimensionen, der dem Komponisten bei seiner ersten Idee des Werks offenbar vorgeschwebt haben.

Johannes Maria Staud: Berenice

War Baltakas' Stück über weite Strecken eine überlegt durchstrukturierte Sprachkomposition, so gab sich der als Oper deklarierte Bühnenerstling Berenice von Johannes Maria Staud als weitläufiges Gefüge von Text-, Gesangs- und Instrumentalpartien mit live-elektronischer Beimischung. Der 1974 geborene Österreicher hat in den letzten Jahren eine steile Karriere in den einschlägigen Festivals und Konzertreihen für neue Musik begonnen.

Als Vorlage für sein Münchener Auftragswerk wählte Staud Edgar Allan Poes Erzählung Berenice, und auf der Suche nach einem geeigneten Librettisten brachten ihn einige Berliner Dramaturgen mit Durs Grünbein zusammen. Damit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Der junge Dichter lieferte ihm einen ausufernden Text voller monologischer Reflexionen und verbissen-psychologisierender Erwägungen, den der unerfahrene Komponist kritiklos übernahm. Herausgekommen ist ein neunzigminütiger Einakter, in dem die Musik vom Text förmlich zugeschüttet wird und überwiegend eine Existenz als Begleitmusik zu Sprechdialogen fristet. Zur Entfaltung ihrer unbestreitbaren Qualitäten muss sie sich in die Nischen flüchten. Aufgelockert wird der gleichmäßige Fluss durch einige Einlagen U-musikalischen Charakters, die dem Ganzen durchaus gut bekommen.

Die Hauptfigur des Egäus ist bei Grünbein/Staud ein zwischen der Welt der Poesie und den Verlockungen des Weibes hin- und hergerissener blutleerer Intellektueller. Glücklicherweise ist die Rolle in zwei Personen aufgeteilt, in einen Sprecher/Schauspieler und einen Sänger. So entgeht der Komponist der Pflicht, die ganze Partie vertonen zu müssen.

Die Regie von Claus Guth, Christian Schmidts Bühnenbild und die vielen Videoprojektionen setzten die psychologische Spannung des Stoffs in eine Mischung von einprägsamen Bildern, präziser Charakterzeichnung und morbider Atmosphäre um. Die Bühne zeigte die Aussenansicht eines modernen Einfamilienbungalows und war wagrecht zweigeteilt. Oben spielte sich das mehr kammerspielhafte Geschehen im Inneren und auf der Terrasse ab, während unten in der Einfahrt Platz für größere Außenszenen war. Hier stand auch die amerikanische Luxuslimousine, in der Edgar Allan Poe persönlich saß, wo er als Verkörperung des Dichters seine Kommentare abgab und zwischendurch von einem Vamp verführt wurde, dass die Karrosserie nur so schaukelte.

In Erinnerung bleiben von diesem Abend vor allem die gelungene Regie sowie die fantasievolle Musik, die im ganzen Theater- und Sprechspektakel irgendwie heimatlos wirkte und nur selten zu sich selbst fand. Ein zweiter, weniger ambitionierter Anlauf zu einem neuen Bühnenwerk wäre dem Komponisten zu gönnen.

Marc André: ... 22,13 ...

...22, 13... heißt der lapidare Titel des Beitrags von Marc André - eines Bühnenwerks von rund anderthalb Stunden Dauer, das sich fast durchgehend und mit wenigen Abweichungen auf einem musikalischen Ausdruck, einer musikalischen Faktur festbeißt und mit dieser konsequenten Haltung einen starken Sog und ein gerüttelt Maß an Verstörung beim Hörer erzeugt. Der 40-jährige Franzose Marc André, viel geförderter Schüler von Helmut Lachenmann, hat darin eine Endzeitsituation heraufbeschworen, die schwärzer und hoffnungsloser nicht vergegenwärtigt werden könnte. Die enigmatische Zahl des Titels verweist auf die Offenbarung des Johannes Kapitel 22 Vers 13, der lautet:

"Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende."

Der Satz wird einmal während des Stücks über Lautsprecher geflüstert. Weitere Verse der Johannes-Apokalypse werden kombiniert mit Ausschnitten aus der Bibel von der Passion Christi, und zum Schluss mündet diese schwarze Utopie andeutungsweise in eine Schreckensvision der jüngsten Vergangenheit: den Verweis auf einen Zug von KZ-Häftlingen zum Ende des 2. Weltkriegs. Eine weitere Bedeutungsschicht liefert Ingmar Bergmans Film "Das siebente Siegel". Als Zeitstruktur liegt dem Ganzen das Timing der Schachpartie zu Grunde, die Schachweltmeister Kasparov 1997 gegen den IBM-Computer Deep Blue führte und verlor.

Was schon vom gedanklichen Konzept her eine enorm depressive Tendenz aufweist, wird durch die musikalische Verarbeitung noch bekräftigt. Schwarze, düstere und sehr leise Klänge dominieren, die in ihrem Inneren in ständiger Veränderung begriffen sind. Was natürlicher Klang der Instrumente, was durch die live-Elektronik (André Richard und das Freiburger Experimentalstudio) verfremdet ist, lässt sich nicht unterscheiden. Bei einem neuen "Schachzug" wird der fahle Klangstrom durch eine Generalpause und eine kurze Schlagzeugeruption unterbrochen. Der Komponist schafft damit einen Klangtunnel, aus dem es kein Entrinnen gibt, nur das Vorwärts ins ungewisse Dunkel. Auch die zum Schluss einsetzenden Singstimmen wirken nicht gerade wie das Licht am Ende dieser Tunnelfahrt. Die "Musiktheater-Passion", wie Marc André sein Stück bezeichnet, kennt keine Auferstehung.

Die Instrumentalisten sind in vier Gruppen rund um das Publikum und vor der Bühne verteilt, Sänger treten mit wenigen solistischen Partien nur im Orchester in Erscheinung, ansonsten kommen die Stimmen vorwiegend aus den Lautsprechern. Intensives Flüstern, ganz dicht am Mikrofon gesprochen, herrscht vor, die Vokal- und Instrumentalstimmen gehen bis zum siebenfachen Piano zurück. Der nuancenreiche Klang in diesen Schattenregistern wurde von den Instrumentalisten des koproduzierenden Staatstheaters Mainz unter der Leitung von Peter Hirsch subtil modelliert.

Kann man zu einer solchen Musik, die keine öffnende Gesten kennt und sich vollkommen auf sich selbst zurück gezogen hat, überhaupt Bilder und Aktionen erfinden? Der Regisseur und Bühnengestalter Georges Delnon machte einen sehr achtbaren Versuch mit einer offenen Bühne, auf der sich auf quer zum Publikum verlaufenden Schienen fahrbare Paravents hin und her bewegen. Sie geben in einer Art von Momentaufnahmen immer wieder neue Blicke frei auf Personengruppen, die symbolisch menschliche Grundsituationen nachstellen: Handlungsrudimente, in den zeitlosen Raum der Musik und der leeren Bühne gestellt. Einmal verwandeln sich die beweglichen Quadrate in ein düster beleuchtetes Stelenfeld, gegen Schluss werden sie von den Schauspielern schräg angehoben. Ein Einspruch gegen die niederdrückende Gruftsituation, die das ganze Stück beherrscht?

... 22,13 ... geht an die Grenzen nicht nur dessen, was Musiktheater sein kann. Es scheint, als ob Marc André mit seiner beinahe selbstquälerisch anmutenden Unterdrückung von jeglichem lebensbejahenden Affekt einen Vorstoß unternimmt, die Grenzen des verstandesmäßig Vorstellbaren abzutasten. Es ist ein sehr beachtlicher Versuch, der Musik neue Dimensionen zu erschließen. Ob hier aber ein gangbarer Weg für das Musiktheater der Zukunft liegt, mag mit einigem Recht bezweifelt werden. Doch inmitten all der Lauheiten und Weichspülereien in der gegenwärtigen neuen Musik nötigt ein solches Scheitern auf hohem Niveau großen Respekt ab.

Musiktheater: Ein Konzept?

Musiktheater, das zeigte sich wieder einmal bei der diesjährigen Münchener Biennale, hat heute viele Gesichter. Einheitliche Gattungsvorstellungen sind mit dem Abschied vom traditionellen Begriff der Oper verschwunden, die Grenzen sind denkbar weit gezogen. Als ob John Cages Ausspruch "Sie müssen es nicht Musik nennen, wenn es Ihnen nicht gefällt" das heimliche Motto für die heutigen Komponisten abgeben würde. So ist auch der Begriff "Musiktheater" nur noch eine vage Formel, die alles umschließt, was irgendwo zwischen Text, Musik, Bühne und neuen Medien angesiedelt ist. Die Grenzen zwischen den verschiedenen medialen Darstellungsformen sind fließend.

Zugespitzt formuliert könnte man die Produktionen der diesjährigen Münchener Biennale etwa so klassifizieren: "Versuchung" von Qu Xiao-song ist chinesisches Theater mit opernhaften Elementen, Marc Andrés "22,13..." ein bebildertes Konzert, "Cantio" von Baltakas ein durchkomponiertes Sprechtheaterstück mit musikalischem Epilog, "Berenice" von Johannes Maria Staud ein Hörspiel mit Musikeinlagen und Brian Ferneyhoughs "Shadowtime", von dem noch zu sprechen ist, ein szenisches Oratorium.

Auch der Gesang als das älteste und vielleicht charakteristischste Merkmal der Gattung Oper respektive Musiktheater ist für viele Komponisten nicht mehr conditio sine qua non. Aus fast allen Werke der Münchener Biennale sprach eine tiefe Skepsis – oder war es nur Desinteresse? – nicht nur gegenüber dem schönen Singen, sondern gegenüber dem Singen überhaupt. An seiner Stelle gab es eine Reduktion auf Flüstern, Sprechen und Geräuschartikulation, häufig noch verfremdet durch eine digitale Bearbeitung des Stimmklangs. Intendant Peter Ruzicka meint dazu:

Die Biennale ist seit jeher ein Forum auch für experimentelles Musiktheater, und dass die Komponisten versuchen, in Grenzregionen vorzustoßen, ist auf diesem Forum sinnvoll und notwendig. Wir sind eben kein Staatstheater. Wir haben auch nicht einen Schwerpunkt bei der Literaturoper, das heißt bei der Vertonung von narrativen Entwürfen, wo es sehr viel näher liegt, auch große vokale Entwürfe herzustellen. Gerade in diesem Grenzbereich ist vielfach dann auch die Stimme in einer indirekten, in einer gebrochenen Weise wahrnehmbar, möglicherweise auch am Punkt des Geräusches festgemacht. Wie in dem Werk von Marc André, ... 22,13 ..., wo die Vokalstimmen ganz in den Orchesterklang eingezogen sind und so ein Zwischenstadium ergeben zwischen dem naturalen Stimmklang und dem instrumentalen Klang. Das ist eines der Beispiele für eine ungewöhnliche Handhabung dieses Verhältnisses von singendem Sänger auf der Bühne.

Ist das nun ein genereller Trend unter den heutigen Komponisten, oder schlägt sich darin eher eine bestimmte Sichtweise, eine programmatische Auswahl des Intendanten nieder? Peter Ruzicka:

Ich begreife meine Aufgabe nicht, Vorgaben zu machen, wie das musikalische Material gehandhabt werden soll. Sondern das hat mit Vertrauen zu tun. Man lernt junge Komponisten weltweit kennen, spricht mit ihnen, kennt ihre Partituren, und gibt dann Aufträge, die möglicherweise um ein Leitthema kreisen. Aber die musikalische Struktur als solche muss im autonomen Bereich der Komponistinnen und Komponisten bleiben. Ich würde auch nichts davon halten, wenn es so eine "Münchner Schule" gäbe, wenn man also eine Kompositionstechnik ausschließlich pflegen würde. Hier muss ein Pluralismus sein, und meine Aufgabe ist es eher, zu sammeln, zu fokussieren, zu verstärken. Und es gilt auch bestimmte Themen aufzuspüren, die weltweit in der Luft liegen. Wir haben hier unter dem Thema "In die Fremde" Fragestellungen, die an der amerikanischen Ostküste wie an der Westküste Chinas eine Rolle gespielt haben. Wir haben da doch ein weltweites Feld und versuchen das so sensibel wie möglich zu erspüren.

Brian Ferneyhough: Shadowtime

Zum Abschluss der Münchener Musiktheaterbiennale folgte dann am 25. Mai die mit großer Spannung erwartete erste Musiktheaterarbeit von Brian Ferneyhough. Der 61-jährige Brite, der zur Zeit an der Stanford University Komposition unterrichtet, gilt als der wichtigste Exponent des sogenannten Komplexismus. Seine Partituren sind dicht gearbeitet, bis ins kleinste Detail durchstrukturiert und extrem schwierig zu realisieren.

Wer hätte schon gedacht, dass ein so intellektuell geleiteter Komponist, Schöpfer absoluter Musik par excellence, ein Faible für Oper respektive Musiktheater besitzt, für jene musikalischen Gattung also, in der es am meisten menschelt und die Wellen der Affekte traditionell hoch schlagen? Und siehe da: In seinem Bühnenwerk Shadowtime wird ausgiebig gesungen, auch schön gesungen. Von allen Biennale-Produktionen war es diejenige mit dem größten Anteil an Gesang.

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Doch eigentlich will Ferneyhough mit all dem traditionellen Opernballast nichts zu tun haben. Im Zentrum seines Werks steht die Figur des Schriftstellers und Philosophen Walter Benjamin, der sich 1940 in den Pyrenäen auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Ein Sujet, das in Anbetracht des anhaltenden Interesses am deutsch-jüdischen Denker von einiger Aktualität ist; schon Ferneyhoughs Schüler Claus-Steffen Mahnkopf hatte bei der Münchener Biennale 2000 unter dem Titel "Der Engel der Geschichte" eine Benjamin-Oper vorgelegt.

Nun folgte also der Meister nach, mit einem Konzept, das von einer souveränen Weite des Gedankens und einem schwindelerregenden Reichtum an philosophischen, ästhetischen und historischen Querbezügen getragen ist. Schiller, Hölderlin, Heidegger, Marx, Gershom Scholem, Hitler, Papst Pius und Jeanne d'Arc sind nur einige der Referenzpunkte in diesem weit gespannten Gedankengeflecht. Es findet seine Entsprechung in einer musikalischen Faktur, die mit ihrer Komplexität die Reihe der konzertanten Stücke dieses Komponisten bruchlos fortsetzt.

Es geht Ferneyhough in Shadowtime nicht um den konkreten, biografisch und psychologisch darstellbaren Menschen Benjamin, sondern um den Denker Benjamin als Prototyp und zugleich letztes Exemplar des Typus des europäischen Intellektuellen, der mit dem Naziterror historisch zu einem Ende kam. Ein Ideendrama habe ihm vorgeschwebt, sagte der Komponist in einem öffentlichen Gespräch vor der Uraufführung, und die Figur von Walter Benjamin diente ihm dazu als eine Art Auslöser für allgemeinere Überlegungen:

Es geht um die Geschichte seines Gedankengutes, das bei uns noch stark und vielleicht zunehmend im Umlauf ist. Es geht aber auch um seine Repräsentanz einer Figur aus den 1920er und 30er Jahren, und das heißt Figur des deutschen Intellektuellen - nicht nur des deutschen, auch des europäischen intellektuellen. Ich glaube, heutzutage kann man nicht mehr behaupten, dass es Intellektuelle in unserer Gesellschaft gibt. Es gibt sehr viel intelligente Leute. Aber Intellektueller zu sein in den 20er und 30er Jahren, hieß eher eine Art Lebensform zu bejahen und daran teil zu nehmen, was meines Erachtens auch eine gewisse ethische Verantwortung mit sich gebracht hat. Die Frage, die ich in dieser Oper stelle, ist zunächst, ob von einem Versagen des Intellektuellen in diesem Zeitraum gesprochen werden kann. Und wenn ja, kann man diese Art von Versagen auch auf unsere Tage übertragen, auch wenn die gesellschaftlichen Formen der Vermittlung ganz andere geworden sind. Deswegen geht es weniger um die Person Benjamin, wie tragisch auch sein Schicksal war, sondern vielmehr um seine repräsentative Funktion.

Als Librettisten suchte sich Ferneyhough den US-amerikanischen Autor Charles Bernstein aus. Auf der Grundlage eines gemeinsam erarbeiteten Konzepts ließ er ihm weitgehend freie Hand. Zu den wenigen Auflagen gehörte der Wunsch, der Text möge u.a. durch Zahlenverhältnisse strukturiert und außerdem so beschaffen sein, dass er als Rohmaterial auch zerschnitten, aufgespalten und permutiert werden könnte. Bernstein lieferte ihm ein sehr umfangreiches Textmaterial, das vom konventionellen Dialog über die philosophische Reflexion und das Stilzitat bis zur konkreten Poesie und zum Anagramm ein breites Spektrum an Sprechweisen abdeckt. Das alles bewegt sich auf gehobenem literarischem Niveau, was Ferneyhough optimal entgegen kam.

So viele Opernlibrettos sind irgendwie 08/15-Produkte, und sicherlich kommt das der Musik und dem Drama zum Teil zugute. Ich wollte das aber nicht. Wenn es um eine Oper, um eine rappresentazione oder Musikdrama oder wie man das nennen will, geht, hat die begriffliche Dimension, die ein Libretto dann doch darstellen oder verkörpern sollte, eine sehr wichtige Rolle zu spielen.

Bernsteins Libretto ist über weite Strecken autonome Literatur, und genau so verhält es sich mit Ferneyhoughs Musik: Sie ist weitgehend autonome Musik, die nicht zwingend der Szene bedarf. Der Regisseur Frédéric Fisbach schlug sich wacker und zog manche kleinen Handlungsfäden in die abstrakte Materie ein. Das erfindungsreiche Bühnenbild von Emmanuel Clolus schaffte mit Projektionen, Schattenwürfen und riesigen Textfahnen zusätzliche Verständnishilfen. Doch zwangläufig wirkte manches wie die leicht verlegene Bebilderung eines musikalischen Geschehens, das seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, umso mehr, als bei der Dichte der musikalischen Faktur der Text über weite Strecken unverständlich bleiben musste.

Die sieben Szenen von Shadowtime fügen sich zu einer über zweistündigen musikalischen Großarchitektur, deren Einzelteile streng durchkonstruiert sind. Das Ganze wird nicht durch einen Handlungsfaden, sondern durch ein komplexes Geflecht abstrakter Überlegungen zusammengehalten, wobei sich musikalische Disposition und philosophische Reflexion subtil verknüpfen. Der Text spielte für Ferneyhough offenbar die Rolle eines Katalysators. Zwar verharrt auch in diesem Musiktheaterwerk die Musik auf dem für ihn charakteristischen hohen Abstraktionsniveau. Doch entfaltet sie einen großen Reichtum an musikalischen Formen und Ausdruckshaltungen, einen Reichtum, der vermutlich ohne die Perspektivenvielfalt der Textvorlage nicht zustande gekommen wäre. Gerade in den Gesangspartien zeigt sich Ferneyhough als hoch inspirierter Komponist. Bei aller konstruktiven Strenge und Stilisierung entfaltet sein Vokalsatz manchmal einen ungewöhnlich lyrischen Klangsinn.

Hineinmontiert in dieses eigentümliche Bühnenwerk, das mit seiner formalen Statik und seinen ausgedehnten Chorsätzen dem Oratorium eigentlich näher steht als dem Musiktheater, sind einige Stücke, die primär instrumental konzipiert sind. So etwa der zweite der sieben Teile mit der Überschrift Les Froissements des Ailes de Gabriel (Das Rascheln der Flügel Gabriels) – ein veritables, nach strikt musikalischen Gesichtspunkten gebautes Gitarrenkonzert, das eine in sich geschlossene Form darstellt. Oder die zehnminütige Komposition Opus contra naturam für einen sprechenden Pianisten, ein irrwitzig schweres Klavierstück, das den Abstieg Benjamins in die Unterwelt symbolisieren soll und von Nicolas Hodges brillant hingelegt wurde.

Die Aufführung konnte von einem hohen Interpretationsniveau profitieren. Neben einem Solisten wie Nicolas Hodges und dem phänomenalen Nieuw Ensemble aus Amsterdam unter der Leitung Jurjen Hempel waren es vor allem die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die der Musik ihr Gesicht gaben und das Stück zum Erfolg führten. Angesichts der Schwierigkeit der Partitur leisteten sie schier Übermenschliches. Es war vor allem ihr Triumph, dass dieses sperrige, unter Bühnengesichtspunkten problematische und musikalisch zugleich faszinierende Werk einen so starken Eindruck hinterließ.

Bei der Einführung vor der Premiere bezeichnete Biennale-Intendant Peter Ruzicka Shadowtime als ein Musiktheaterwerk von musikhistorischer Bedeutung. Doch über dessen geschichtlichen Rang wird die Zukunft und nicht die Gegenwart entscheiden. Nun muss sich das Werk zunächst einmal in den Aufführungen beim Festival d'Automne in Paris, beim Lincoln Center Festival in New York und bei der Ruhrtriennale 2005 bewähren. Dann wird sich zeigen, in welche Richtung der Weg geht.

© Max Nyffeler (Mai/2004)

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