Dreierlei Art von Kritik
Gespräch über Kunst- und Musikkritik
mit Peter Hagmann, Philip Ursprung und Max Nyffeler
Max Nyffeler: In jüngster Zeit sind vor allem in deutschen
Feuilletons Artikel erschienen, die von einem Funktionswechsel der Kritik
handeln. Anknüpfend an den in den USA erschienenen Essay-Band The
Crisis of Criticism (1) wird festgestellt, der Kritiker werde
als Instanz der Meinungsbildung nicht mehr ernstgenommen und zum Propagandisten
von kulturellen Waren degradiert. Die Rede ist von einem dramatischen Macht- und Prestigeverlust der Kritik. Trifft das aus Ihrer Sicht zu?
Peter Hagmann: Nein. Dazu möchte ich ein Beispiel anführen.
Es gibt Untersuchungen der Tonträgerindustrie in der Schweiz über
die konkreten Auswirkung der Kritik auf den Verkauf einzelner CompactDiscs.
Mir ist nun der konkrete Fall geschildert worden, dass einer meiner Artikel
zu einer deutlich spürbaren Steigerung der Verkaufszahlen geführt
hat. Das hat mich sehr erstaunt. Aber es gibt Zahlen und Beobachtungen,
die solche Beeinflussungen bestätigen.
Nyffeler: Handelte es sich um eine Aussenseiterproduktion, die
dadurch plötzlich ins Licht gerückt wurde?
Hagmann: Es war eine Einspielung der Schumann-Sinfonien, der
ich für die Interpretationsgeschichte zentrale Bedeutung beimesse,
und die ich wahrscheinlich enthusiastisch genug angezeigt habe. Also ein
ganz gewöhnlicher Fall. Traditionelles Repertoire.
Philip Ursprung: Für die bildende Kunst würde ich dieser
Idee der Krise der Kritik zustimmen. Der Kunstbetrieb in Europa steht dem
amerikanischen Betrieb strukturell wahrscheinlich viel näher als der
Musikbetrieb. Das ist deswegen interessant, weil es einem erlaubt, die
Frage nach dem Publikum, dem Adressaten, zu stellen. In der bildenden Kunst
nimmt dieses Publikum seit den sechziger Jahren rasant zu, was zur Folge
hat, dass die Kritik mit immer neuen Adressaten konfrontiert wird; sie
kommen durchaus auch aus dem Bereich der Populärkultur. Meine Erfahrung
ist, dass der Kunstkritiker ein kleines Rädchen im Betrieb ist, dass
er nicht nur wenig konkrete Macht oder Einflussmöglichkeiten hat,
sondern sogar von den Entscheidungen anderer abhängt. Die viel mächtigeren
Positionen in dieser Kunstindustrie haben die Ausstellungsmacher, die Kuratoren.
Übrigens nehmen heute viele Kritiker beide Funktionen abwechselnd
wahr. Die berufliche Praxis der Kritik hat sich seit den achtziger Jahren
sehr stark verändert.
Nyffeler: Den Fachkritiker in reiner Form gibt es in der bildenden
Kunst nicht mehr?
Ursprung: Es ist immer mehr so, dass eine Person verschiedene
Funktionen übernehmen kann und aus finanziellen Gründen auch
muss.
Nyffeler: Das widerspricht der traditionellen Vorstellung von
der Unabhängigkeit des Kritikers. Danach soll er niemandem verpflichtet
sein als seinem Gewissen und der Redaktion, für die er schreibt, und
ausserhalb kommerzieller Interessen stehen.
Ursprung: Die Idee der Unabhängigkeit oder Neutralität
des Kritikers halte ich für eine Fiktion. Vielleicht ist es eine Wunschprojektion.
Jede Art von Bedeutungsübertragung und Urteilsvermittlung ist interessegesteuert.
Konkret benennbar ist dies, wenn jemand von einer bestimmten Galerie Unterstützung
erhält; oft werden Kritiker ja auch direkt von Galerien bezahlt. Dass
es eine Ideallösung ist, wenn jemand bei einer Zeitungsredaktion angestellt
ist, bezweifle ich, denn was man tun muß, um dahin zu gelangen, ist
ja auch nicht immer interessefrei, und man muss sich der Politik dieser
Zeitung anpassen.
Nyffeler: Wie ist das bei der NZZ? Sie legt wie viele
andere internationale Blätter ihres Formats Wert auf die Unabhängigkeit
der Redaktion. Ist diese Unabhängigkeit denn tatsächlich so unumschränkt?
Hagmann: Ja, es gibt tatsächlich dieses Gefühl der
Unabhängigkeit, das auch in der wirtschaftlichen Unabhängigkeit
der Zeitung begründet liegt. In meiner Arbeit folge ich meinen ästhetischen
Kriterien und schere mich einen Deut um irgendwelche Beeinflussungen. Zum
Beispiel bin ich absolut frei, Einladungen etwa zu einem Festival, die
neben den Freikarten auch Reise, Unterkunft und Verpflegung beinhalten,
anzunehmen oder abzulehnen.
Nyffeler: Meines Wissens wird etwa beim Spiegel gerade
das nicht gemacht. Dort sagt man: Wir bezahlen unsere Redakteure überdurchschnittlich
gut, inklusive aller möglichen Spesen, deshalb sollen sie keine Einladungen
annehmen. Sie sollen gar nicht in Versuchung kommen.
Hagmann: Das wird bei uns liberal gehandhabt. Ich habe auch schon
gesagt: Ich komme auf Rechnung der Zeitung, damit ich mich unabhängig
fühle. Andererseits h abe ich es schon erlebt, z.B. in Frankreich,
dass mir vom Festivalleiter ein Umschlag in die Hand gedrückt worden
ist, und da war bares Geld drin - für die Reise von der Grenze zum
Festivalort, für Verpflegung etc. Wenn sich die Veranstalter das leisten
wollen, dann bitte schön. Ich vertrete trotzdem meine eigene Meinung.
- Doch ich hätte gerne noch etwas zum Thema Macht gesagt. Für
mich ist das keine relevante Kategorie. Mich interessiert es nicht, ob
ich Macht ausübe oder nicht. Ich habe einfach meine Überzeugung,
die möchte ich verbreiten, und ich habe glücklicherweise die
Chance, dass ich das in einem potenten Medium tun kann. Was es bewirkt,
weiss ich nicht genau. Ich habe zwar Reaktionen aus einem engeren und weiteren
Leserkreis, ich kriege manchmal Feedback von Veranstaltern oder Schallplattenverkäufern.
Aber ich glaube, die Wirkung der kritischen Äusserung ergibt sich
daraus, dass derjenige, der diese Äusserung tut, von ihr und ganz
allgemein von seiner Aufgabe und seiner Funktion überzeugt ist.
Ursprung: Ganz richtig. Aber ich befinde mich nicht in einem
autonomen, absoluten Bereich. Die Idee der Autonomie der Kultur ist für
mich eine historisch lokalisierbare Vorstellung, die seit den sechziger
Jahren nicht mehr haltbar ist, zumindest im Bereich der bildenden Kunst.
Mich interessiert die Frage der Macht nicht deshalb, weil ich mir einbilde,
mit Kritik Macht auszuüben, sondern weil ich überzeugt bin, dass
es keine neutrale oder objektive Bedeutung gibt. Wenn ich mich mit einer
Sache befasse, ob ich diese nun portiere oder kritisiere - ich bin immer
interessegeleitet. Ich spreche innerhalb eines bestimmten Zusammenhanges
für eine bestimmte Sache und versuche ihr mehr Gewicht zu geben. Das
muss nicht heissen, dass ich der bezahlte Diener eines Galeristen bin.
Es kann auch eine symbolische Macht im Sinne eines Diskurses sein, den
ich verstärken will.
Hagmann: Das ist das Entscheidende.
Nyffeler: Definitionsmacht?
Hagmann: Noch nicht einmal das. Mir geht es zuallererst darum,
dass es überhaupt einen Diskurs gibt, dass etwas zum Thema wird. Dass
der Gegenstand, mit dem ich mich auseinandersetze und der mir am Herzen
liegt, weiter existiert und dass es weiterhin Menschen gibt, die sich mit
ihm auseinandersetzen. Einfluss ausüben heisst für mich also:
Zeigen, wie man über etwas nachdenken, wie man etwas erleben kann.
Und den Leser anregen, dies in je eigener Weise auch zu tun.
Ursprung: Man könnte auch von einer Diskursindustrie sprechen.
Im akademischen Bereich ist das besonders ausgeprägt und hängt
konkret mit Macht zusammen, denn je nachdem, wo in dieser Industrie man
steht, kriegt man eine Stelle oder nicht. Ich glaube, diese Diskursindustrie
gibt es auch in der Kritik. Es sei denn, man betrachte die eigene Praxis
als eine Art Manufaktur innerhalb eines industriellen Umfeldes, wo man
für sich und einige Wenige operiert. Aber ich glaube nicht, dass man
sich da ganz herauslösen kann.
Hagmann: Hat für Sie das Wort 'Diskursindustrie' mit der
Frage zu tun, wer wo wozu das Wort erheben darf, wer von wem beachtet wird
als Kritiker?
Ursprung: Entscheidend ist, wer überhaupt dazu kommt, das
Wort zu ergreifen, das heisst: wer über die Produktionsmittel verfügt.
In der Kritik ist der Diskurs eines der Produktionsmittel, das Publizierenkönnen
in einem bestimmten Medium ist eines, und das Angefragtwerden ist eines.
Aufgrund welcher Kriterien geschieht das? Der Kunstbereich ist sehr differenziert,
er ist kein Monopolbetrieb, sondern besteht aus vielen Teilbereichen, die
sich gegenseitig definieren und am Leben halten. Es ist von vitaler Bedeutung,
dass man sich innerhalb dieser Sub-Betriebe auskennt, dass man weiss, welche
Verbindungen man knüpfen und welche Vokabularien man benutzen muss,
um gehört zu werden.
Nyffeler: Wir sind vom Prestige- oder Machtverlust des Kritikers
ausgegangen. Ist das ein Prozess, der erst in den letzten Jahren stattgefunden
hat, oder handelt es sich um ein älteres Phänomen?
Ursprung: In der bildenden Kunst hängt dieser Machtverlust
damit zusammen, dass sich das Publikum von einem kleinen interessierten
Zirkel zu einem Massenpublikum verbreitet hat. Heute gehen 600.000 Menschen
zur documenta, auf jeder Bahn-Lokomotive steht das Logo. Die documenta
ist ein populäres Ereignis, das gerade junge Leute anzieht und solche
Dimensionen hat, dass es für einzelne Vermittler überhaupt nicht
mehr möglich ist, viel zu beeinflussen. Mit dem Umschlag in ein Massenpublikum
hat der Kritiker seine Rolle als Kunstrichter, wie sie noch im 19. Jahrhundert
existierte, verloren.
Nyffeler: Ist das ein Effekt der sogenannten Demokratisierung
der Kultur, von der man seit den sechziger Jahren spricht?
Ursprung: Ich würde es nicht Demokratisierung nennen, sondern
ich würde dem amerikanischen Theoretiker Fredric Jameson folgen, der
von der 'Expansion der Kultursphäre' schreibt, die alle Lebensbereiche
überzieht, so dass nichts mehr nicht Kultur ist (2). Der Preis dieser
Expansion ist , dass es keine kulturelle Autonomie mehr gibt.
Nyffeler: Wie zeigt sich das bei der NZZ? Welches Publikum
wird da angesprochen, und hat sich in den letzten Jahren bei den Leseerwartungen
im Feuilleton etwas verändert?
Hagmann: Die Zeitung richtet sich nicht nach dem, was in der
breiten Öffentlichkeit im Moment gerade ankommt. Sie definiert sich
als ein Produkt, das bewusst ein gehobenes Niveau vertritt, und sie sieht
gerade darin ihre Existenzchancen. Wir pflegen einen Begriff von Journalismus,
der vielleicht altmodisch wirkt und der sich an bestimmten Qualitätsvorstellungen
orientiert. Offenbar gibt es ein Lesersegment, das sich für diese
Art von Journalismus interessiert. Dass wir damit nicht ganz falsch liegen,
zeigt sich darin, dass die Auflage bisher jedes Jahr um einige Prozente
gestiegen ist.
Nyffeler: Also eine Art Antitrendverhalten, das sich auszahlt,
indem man an bestimmten tradierten Werten festhält.
Hagmann: Ja. Redaktionsintern führen wir natürlich
viele Diskussionen über dieses Thema und darüber, ob und wie
wir unsere Inhalte besser verkaufen können. Wir sprechen z.B. über
die Länge des einzelnen Artikels, und im Feuilleton sind wir dazu
übergegangen, ganz klar zu gewichten zwischen kurzen und langen Artikeln.
Wir sind uns bewusst, dass die Anzahl der Leser, die sich Zeit nehmen,
einen langen Artikel wirklich zuendezulesen, im Schwinden ist. Das ergibt
sich einfach aus den Lebensgewohnheiten. Wir sprechen auch darüber,
welche Auswirkungen das auf die sprachliche Gestaltung hat, aber nicht
in dem Sinn, dass wir uns um eine simplere Sprache bemühen. Es geht
darum, die Sprache möglichst klar, möglichst transparent zu halten.
Nyffeler: Kann man in der Kunstkritik beobachten, dass bestimmte
komplexere Darstellungen von Inhalten nicht mehr gewünscht sind? Haben
Sie da Erfahrungen?
Ursprung: Ich finde, dass man die Leserschaft gar nicht hoch
genug einschätzen kann und dass man die Latte immer hoch hängen
sollte, auch bei noch so massenhaft verbreiteten Produkten. Aber die Redaktionen
sind nicht immer dieser Ansicht. Bei der Zeitschrift du ist es mir
passiert, dass einzelne Sätze verändert und mit 'grifferen' Formulierungen
ersetzt werden mussten.
Nyffeler: Kann man diese Aussage veröffentlichen?
Ursprung: Warum nicht?
Nyffeler: Ich meine ja nur - eine Frage des Interesses...
Hagmann: ... ob Sie sich schaden.
Ursprung: Ich glaube nicht. Es ist mir auch bei der NZZ
passiert ? wobei der betreffende Redaktor aber immer klar begründete,
warum er etwas anders haben wollte.
Hagmann: Was waren das für Eingriffe?
Ursprung: Es ging um den Tonfall und darum, dass ich zu sehr
Partei ergriffen hatte. Aber das gibt es auch bei Medien wie Texte
zur Kunst, die im deutschen Sprachraum zu den theoretisch anspruchsvollsten
gehören: Die Redaktion greift ein, weil sie den Artikeln einen bestimmten
Kurs aufprägen will. Das heisst, man muss eben eine bestimmte Joppe
anziehen, um da abgedruckt zu werden. Ich sehe das aber nicht als fundamentales
Problem und möchte es nicht übergewichten. Eingriffe gehören
zum redaktionellen Handwerk, denn ein Text soll ein bestimmtes Publikum
erreichen.
Nyffeler: Es kann ja auch durchaus lehreich sein, für ein
Nichtfachpublikum zu schreiben.
Hagmann: Man muss unterscheiden zwischen Eingriffen, die in Richtung
'flott' gehen, und Eingriffen, die von einem vielleicht vagen, aber doch
vorhandenen Qualitätsbegriff ausgehen. Als Redaktor sage ich mir auch:
Ein Text muss einfach gut geschrieben sein. Er muss einen anspringen mit
einem ersten Satz, muss einen hineinziehen, und wenn er anderthalb Spalten
lang ist, muss er einen durchziehen bis zum Schluss. Wenn er das nicht
leistet - und das tut er leider relativ selten - , dann ist die Qualität
nicht gesichert. Was ich aber nie schätze, ist die 'Anmache', die
flotte Sprache, die nach Effekten schielt.
Nyffeler: Kann man von einer 'NZZ-Sprache' reden?
Hagmann: Das kann man nicht. Es gibt in der NZZ zwar ein
Sprachkolloquium für die ganze Redaktion, ungefähr alle zwei
Monate, und da werden grammatikalische Dinge diskutiert ? die häufigsten
Fehler, und das sind immer dieselben.
Nyffeler: Aha! Was sind denn das für Fehler?
Hagmann: Dass man zum Beispiel die Konjugation des Verbs nicht
anpasst, wenn im Subjekt Singular und Plural vorkommen. Darauf wird hingewiesen;
aber es gibt keine stilistischen Vorschriften im Sinne von: 'Wir schreiben
hier so und so.'
Nyffeler: Beim Schweizer Radio machte ich neulich eine hübsche
Erfahrung. In einer Sendung über einen modernen Komponisten benutzte
ich ein Fremdwort: 'transzendieren'. Da sagte der Redaktor: 'Das versteht
man hier nicht', und befragte den Studiotechniker als Instanz, ob der es
verstünde. Das erinnert ein wenig an die Praxis in der DDR. Dort wurde
in solchen Fällen der Parteifunktionär geholt, der dann aus der
glasklaren Sicht der Arbeiterklasse entschied, welches Wort der Bevölkerung
zugemutet werden könne und welches nicht.
Ursprung: Das gehört natürlich auch zum Redaktionsalltag.
Als Autor bin ich dankbar, wenn mir jemand sagt: 'Das versteht kein Mensch.'
Hagmann: Was heisst schon: 'Das versteht kein Mensch'? Es gibt
eben Artikel, die richten sich an ein spezielles Publikum, und solche,
die richten sich an ein grösseres Publikum. Die haben dann eine andere
Sprache. Man kann nicht alles über einen Leisten schlagen.
Nyffeler: Das Fernsehen vertritt explizit die Auffassung: Wir
sind ein Boulevard-Medium und müssen uns entsprechend ausdrücken,
auch im Kunstbereich. Macht das für Sie einen Sinn, oder sehen Sie
darin eher eine Banalisierung von Sachverhalten, die nichts bringt?
Ursprung: Das geht in Richtung italienisches Fernsehen. Ausser
bei arte ist Kulturberichterstattung im Fernsehen trostlos geworden.
Es wäre ein wunderbares Medium und ein riesiges Potential. Soweit
ich sehe, wird es aber im schweizerischen und überhaupt deutschsprachigen
Bereich fast nie ausgeschöpft. Ich weiss nicht, woran das liegt.
Hagmann: Dabei wäre es wirklich sehr wichtig. Es ist doch
fast die grössere Kunst, sich in einem Boulevardmedium auf qualitativ
vertretbare Art zu äussern, als in einem Medium, wo man den Platz
hat, sich auszubreiten.
Nyffeler: Ein Wiener Kritiker hat in den zwanziger Jahren einmal
gesagt: 'Es gibt drei Arten von Kritik: die einspaltige, die zweispaltige
und die dreispaltige.' Die öffentliche Wirksamkeit der Kritik reduzierte
er damit ziemlich brutal auf rein quantitative Aspekte, nach dem Grundsatz:
ein dreispaltiger Verriss wird mehr beachtet als ein Fünfzeilenlob.
Das berührt den Werbeaspekt von Kritik.
Hagmann: Aus meiner Sicht ist die unmittelbare Funktion des Kritikers
zunehmend gefährdet durch die Erwartungen, die von seiten der Produzenten
an die Kritik herangetragen werden. Sie sind hauptsächlich werbetechnischer
und somit kommerzieller Natur. Anders als in der bildenden Kunst schrumpft
der Markt im Bereich der E-Musik. Das reine Klassikpublikum wird kleiner.
In völlig liberalen Märkten wie den USA ist es schon jetzt ausserordentlich
schwierig, Konzerte mit klassischer Musik zu veranstalten, und das wird
bei uns auch einmal so sein. Von der Tonträgerindustrie ganz zu schweigen.
Hier ist ein massiver Umsatzrückgang zu beobachten. Da werden die
Forderungen an den Kritiker, etwas für die notleidende Branche zu
tun, immer stärker. Das Nachbereiten, die Reflexion, tritt zurück
zugunsten der Vorschau, des Hinweises, der Kaufempfehlung.
Ursprung: Den Werbeaspekt schätze ich auch sehr hoch ein.
Eine Ausstellung existiert nur dann, wenn sie besprochen wird. Es ist nicht
sehr wichtig, wer schreibt und ob er dafür oder dagegen ist. Es ist
eine quantitative Frage. Galeristen und Kuratoren müssen da mitmachen.
Sie inserieren und erhalten dafür eine Besprechung.
Nyffeler: Wo ist das so?
Ursprung: In Kunstzeitschriften, die ein spezielles Publikum
bedienen. Es wird erwartet, dass Anzeigen geschaltet werden. Im Gegenzug
erscheint dann hin und wieder ein Artikel. Das ist ein ungeschriebenes
Gesetz, das auch dem Leseverhalten entspricht: Man sucht Informationen
im Inserateteil und blättert danach zum Textteil.
Nyffeler: Ich habe sieben Jahre in einem Musikverlag gearbeitet
und diesen Mechanismus auch kennengelernt. Die Zeitschrift macht eine Anzeige
allerdings nicht zur Bedingung eines Artikels, zumindest nicht im E-Musik-Bereich.
Es läuft eher so, dass von der Redaktion die Anfrage kommt: 'Wir bringen
ein Porträt über euren Komponisten X. Wollt ihr nicht eine Anzeige
danebensetzen?' Da sagt sich der Verlag: Klar, da können wir auch
unsere eigenen Informationen über den Komponisten unterbringen. Kommerzieller
und redaktioneller Teil der Information ergänzen sich. Ich habe mir
damals auch angewöhnt, Kritiken auf ihre Verwertbarkeit hin zu lesen:
Welchen Satz kann ich im Werbematerial zitieren? Es gibt natürlich
Kritiker, die sich dem zu entziehen suchen. Gerhard Koch von der Frankfurter
Allgemeinen sagte mir einmal, er mache sich einen Spass daraus, seine
Kritiken so zu formulieren, dass sie nicht zitierbar seien. Andererseits
habe ich aber auch beobachten können, wie irrelevant Kritikermeinungen
meistens sind. Kein Verriss, und sei er noch so gut begründet, kann
verhindern, daß eine neue Oper oder ein Orchesterstück woanders
nachgespielt wird. Die Entscheidung darüber fällen die Veranstalter
unter sich - Intendanten, Musikabteilungsleiter, Direktoren - und oft auch
die Dirigenten, die sehr viel Einfluss auf die Programmierung haben. Vielleicht
auch die Geldgeber im Hintergrund wie Sponsorenclubs. Das alles läuft
oft nach extrem subjektiven Kriterien, ohne Rücksicht auf irgendeine
'veröffentlichte Meinung'. Aber in der Literatur, so scheint es, können
Kritikeraussagen konstituierend für die Werbung sein. So ein kerniger
Satz kommt dann als Kaufempfehlung einer Autorität auf den Buchumschlag.
- Wie ist das in der bildenden Kunst?
Ursprung: Das ist seltener. Man kann die Aussagen ja nicht unters
Bild kleben. Aber ein Künstler sammelt natürlich Rezensionen,
nicht zuletzt für die Dossiers, die er bei Galerien oder Wettbewerben
einreicht. Auch hier ist es weniger wichtig, wie etwas geschrieben wird,
als dass überhaupt geschrieben wird.
Nyffeler: Nochmals zurück zur Eingangsfrage: Ist Kritik
heute überflüssig, oder ist nur ihre Wirkung eine andere geworden?
Hagmann: Die Wirkung der Kritik hängt immer noch in erster
Linie vom Kritiker selbst ab; er muss nur seine Möglichkeiten richtig
nutzen. Ich glaube, dass es den Kritiker heute dringender braucht denn
je, nicht als Autor von Serviceleistungen und Empfehlungen, sondern als
Person, die zur Erhaltung des kulturellen Lebens beiträgt durch die
Art, wie sie sich damit auseinandersetzt.
Ursprung: Es ist ja nicht unpopulär, Kritiker zu sein. Im
Fernsehen gibt es Erfolgssendungen mit Kritikern. Sie bringen ein Massenpublikum
dazu, zuzugucken, wie vier Leute über Bücher reden. Da ist ein
Bedarf vorhanden. Wahrscheinlich ist das eine andere Funktion als im 19.
Jahrhundert, als die Kritiker ihre Urteile als Kunstrichter fällten
und dem Publikum quasi vorschrieben, was es konsumieren sollte. Es kann
sein, dass die Kritik in dieser Funktion ihren Verlust an Einfluss kompensieren
kann. Es scheint, dass es heute eine Art stellvertretendes Erleben und
Lesen gibt: Man delegiert den kritischen Akt des Lesens an die Kritiker
und verfolgt dann genüsslich im Fernsehen, wie sie das Thema aufbauschen
und zerreden.
Nyffeler: Kritik als Unterhaltungsstück: Statt dass ich
ein Buch lese oder mir auf der Theaterbühne ein Stück anschaue,
schaue ich mir im Fernsehen zwei Kritiker an, die sich darüber zanken.
Hagmann: Das ist ein extremes Szenario, und es konzentriert sich
auf die Literatur. Ich würde eine Fernsehsendung wie das Literarische
Quartett nicht als ein Podium der Kritik ansehen. Da wird ja nicht
Kritik geübt. Das ist eine Talkshow, und der Leithammel in dieser
Talkshow vertritt einen Begriff von Kritik, dem ich massiv widersprechen
möchte: Daumen rauf, Daumen runter. Darum geht es nicht bei Kritik.
Nyffeler: Handelt es sich bei diesem Cäsarentum um ein Auslaufmodell
von Kritik, oder erlebt der Typus des alten Kunstrichters im Zeitalter
der Massenmedien eine Renaissance?
Hagmann: Leider ist es etwas sehr Zeitgemässes.
Ursprung: Man darf nicht vergessen: Kritik hat mit einem Publikum
zu tun, und dieses Publikum ändert sich. Diese Erkenntnis ist manchmal
schmerzhaft für die Kritik.
© 1999 by Peter Hagmann, Max Nyffeler, Philipp Ursprung
Das Gespräch erschien in der Kulturzeitschrift PassagenNr.
26, Frühjahr 1999, hrsg. von der Schweizer Kulturstiftung Pro
Helvetia (auch in englischer und französischer Sprache).
Anmerkungen:
1. Maurice Berger (Hrg.): The Crisis of Criticism. New York: The New Press, 1998
2. Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic
of Late Capitalism. Durham: Duke University Press, 1991

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