Karlheinz Stockhausen 75Kleiner Rückblick auf ein langes Komponistenleben1965 sagte Karlheinz Stockhausen in einer Sendung der Reihe "Musikalisches Nachtprogramm" des WDR:
Bei Stockhausen hat die Schießbude ziemlich häufig geklingelt. Kaum ein anderer Komponist hat einen so prägenden Einfluss auf die Musik seit dem Zweiten Weltkrieg gehabt; kaum einer hat so viele exemplarische Werke geschaffen, in exemplarischen Aufführungen zu Gehör gebracht und mit scharfem theoretischen Verstand kommentiert. Ohne ihn wäre die Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anders und vor allem ärmer. Und er versteht sich wie kein zweiter auf die Kunst der suggestiven Kommunikation. Zielstrebig und beredt transportiert er seine Ideen in die Köpfe der Zuhörer, ob es nun um kompositorische Erläuterungen, um ein kosmisches Glaubensbekenntnis oder um das feurige Plädoyer für unvoreingenommenes Denken in der Kunst und im Leben geht. Stockhausen 1960:
1953 wurde im Kölner Sendesaal des WDR die Komposition Kontrapunkte uraufgeführt. Stockhausens Idee einer "punktuellen Musik" erscheint hier erstmals voll ausgebildet. Ein Kontrapunkt nicht mehr von melodischen Linien, sondern von Klangfarben, Rhythmen und Einzeltonhöhen, die als quasi atomistische Einzelereignisse komponiert werden. Musikalische Form löst sich in einen streng durchkonstruierten Klangprozess von abstrakter Schönheit auf. Die Ära der seriellen Musik bricht an. Zugleich arbeitet Stockhausen in dem von Herbert Eimert gegründeten Studio für elektronische Musik im WDR Köln an seinen ersten elektronischen Kompositionen, Studie I und Studie II, die alle bisher bestehenden Auffassungen von Musik revolutionieren werden. Es ist eine Musik, wie sie bisher noch nie jemand gehört hat. Mit atemberaubender Konsequenz setzt der gerade 25-jährige Komponist seinen Weg fort. Er beginnt mit der systematischen Erforschung des musikalischen Raums. Um die komplexen Vorgänge im Innern des musikalischen Materials transparenter zu machen, teilt Stockhausen in seiner 1957 in Köln uraufgeführten Komposition Gruppen das traditionelle Sinfonieorchester in drei Sektionen auf, die hufeisenförmig um das Publikum herum aufgebaut sind. Die Schwierigkeiten bei der Aufstellung der drei Orchestergruppen veranlasst Stockhausen zu einer grundsätzlichen Kritik am zeitgenössischen Musikleben:
Dieser Kommentar von 1958 ist auch heute noch aktuell. Alles Bestehende ist für Stockhausen Anlass zur Veränderung. Mit seinem forschen Optimismus ist er in den zukunftsgläubigen fünfziger Jahren der Zukunftsmusiker schlechthin. Darin ist er ein typisches Kind jener Zeit. Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt kaum ein Jahrzehnt zurück. Karlheinz Stockhausen, am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geboren, hat ihn mit all seinen Gräueln erlebt. Er verlor beide Eltern, als Siebzehnjähriger musste er im Militärlazarett täglich Dutzende von Toten wegräumen. Der Anblick gehängter Deserteure hat ihn nie losgelassen. Doch Mitte der fünfziger Jahre scheint für die bundesdeutsche Gesellschaft die schreckliche Vergangenheit schon zu verblassen, die Aufmerksamkeit gilt dem beginnenden Wirtschaftwunder. Stockhausen traut dem Frieden nicht. Mit seinen Werken steht er, bei aller äußeren Dynamik, quer zu den gesellschaftlichen Erwartungen. 1956 entsteht das Tonbandstück Gesang der Jünglinge über die biblischen Worte der drei Jünglinge im Feuerofen aus dem dritten Buch Daniel. 1992, sechsunddreißig Jahre nach der Uraufführung, erinnert sich Stockhausen:
Im Gesang der Jünglinge tritt eine Konstante in Stockhausens Denken erstmals unverstellt in Erscheinung: der Glaube. In den Werken der sechziger Jahre manifestiert er sich als Mischung irgendwo zwischen rheinischem Katholizismus und asiatischen Glaubenslehren. Vor dem Hintergrund der in den westlichen Ländern entstehenden Hippie- und Meditationskultur schafft sich Stockhausen eine labyrinthische Privatmythologie. Seine Musik wird farbiger, rauschhafter und erhält einen Zug ins Mystisch-Irrationale. 1968, während sich die westeuropäischen Studenten Straßenschlachten mit der Polizei liefern, komponiert er meditative Musik: Aus den sieben Tagen, Stimmung und anderes. Mit Stimmung für sechs Vokalsolisten wird Stockhausen 1971 von Bundespräsident Gustav Heinemann zum Hauskonzert geladen, und bei der Expo 1970 im japanischen Osaka erklingt das Werk 72 Mal im deutschen Pavillon. Ein halbes Jahr lang gibt Stockhausen mit seinem Ensemble in dem kugelförmigen Auditorium täglich Konzerte. Rund 915.000 Personen, so rechnet er aus, haben in dieser Zeit seine Musik gehört. Mit der Weltausstellung in Osaka beginnt Stockhausens weltweite Anerkennung als Komponist, sein Name wird zu einem Begriff auch in der Popkultur. Bereits 1967 ist sein Konterfei auf dem Cover der Beatles-LP Seargent Pepper's Lonely Hearts Club Band erschienen. Der Komponist zielt nun aufs Ganze, und das ist das Universum. Er fühlt sich als Instrument des kosmischen Geistes, als Atom Gottes, und findet eine neue geistige Heimat auf dem Planeten Sirius. Dort sei die Musik am höchsten entwickelt, verkündet er 1978 in Bonn vor der Uraufführung seiner Komposition Sirius, und er wolle er mit diesem Stück einige musikalische Form- und Gestaltprinzipien auf unseren Planeten übertragen. Mit seinem kosmischen Trip liefert Stockhausen der Musikkritik Stoff für Spott und Häme. Man hält ihm vor, die Bodenhaftung verloren zu haben, konstatiert autoritäres Gehabe und Allmachtsfantasien. Er wiederum nennt seine Kritiker Ameisen und Wölfe und sieht einen neuen Linksfaschismus am Werk. Klaus Umbach im Spiegel resümiert:
1977 nimmt Stockhausen sein riesiges Projekt des sieben Abende umfassenden Bühnenzyklus Licht in Angriff. Die Produktionszeit wird auf sieben mal vier Jahre veranschlagt. An der Mailänder Scala und in der Leipziger Oper werden zwischen 1981 und 96 fünf Abende gespielt, die restlichen beiden warten noch auf ihre Uraufführung. Licht ist ein kosmisch-mythologisches Welttheater, in dem die drei Gestalten Michael, Eva und Luzifer als archetypischen Figuren agieren. Stockhausen hat auch den Text selbst geschrieben, was dem Werk nicht immer bekommt. Doch als Komponist versteht der ehemalige Pionier der seriellen Musik noch immer souverän zu disponieren: Das musikalische Geschehen der sieben Abende ist aus einer einzigen Reihenkombination abgeleitet, die er "Superformel" nennt. Aus diesem Kern zieht er einen einzigartigen Reichtum an Gestalten und Verfahrensweisen. Nach mehr als fünf Jahrzehnten kompositorischer Arbeit, die die Welt der Musik veränderte, scheint Stockhausens Lebenswerk abgerundet, nach dem gigantischen Licht-Zyklus eine Steigerung kaum noch denkbar. Mit der Stockhausen-Stiftung, seinem eigenen Verlag, mit dem Kursangebot zur Interpretation seiner Musik und nicht zuletzt mit seiner Großfamilie, aus der sich seine wichtigsten Interpreten rekrutieren, hat der Komponist ein gut funktionierendes Unternehmen geschaffen, das sein künstlerisches Erbe schon jetzt für die Zukunft sichert. Fehlt nur noch der Grüne Hügel mit dem Festspielhaus, wo künftige Generationen die Aufführungen seines Licht-Zyklus besuchen können. Aber auch dafür hat der unverbesserliche Optimist vielleicht schon eine konkrete Idee - er hat ja schon immer in größeren Dimensionen gedacht. © 2003 Max Nyffeler Dieser Text basiert auf einer Sendung für den WDR Köln vom 22.8.2003. Komponisten: Portraits, Dossiers |