Der gescheiterte Körpertausch

"Avatar", eine neue Oper von Roland Moser

Das Wort "Avatar" kommt aus dem Sanskrit und bedeutet eine Inkarnation des Gottes Vishnu. Lange bevor es zum Modewort in der heutigen Cyber-Szene wurde, fühlte sich ein europäischer Komponist schon von seinem magischen Bedeutungsgehalt angezogen: 1953 schrieb der Italiener Giacinto Scelsi seine "Quattro Illustrazioni", vier Illustrationen oder Erleuchtungen über die Metamorphosen von Vishnu, deren Einzelteile er als "Avatare" betitelte.

Eine wiederum andere Bedeutung hat das Wort nun in einem Werk von Roland Moser erhalten. Für ihn, sagt der in Basel lebende Komponist, heiße "Avatar" nicht nur Inkarnation und Körpertausch, sondern auch Fehlschlag, Scheitern; er beruft sich dabei auf französische Wörterbücher, die dem alten Sanskrit-Ausdruck genau diese moderne Bedeutung beilegen würden.

"Avatar" hat Roland Moser zum Titel einer Oper gemacht, die am 3. Mai 2003 am Theater Sankt Gallen uraufgeführt worden ist. (Regie: Peter Schweiger, Musikalische Leitung: Samuel Bächli.) Darin spielen tatsächlich beide Bedeutungsaspekte des Wortes eine gleich wichtige Rolle. Einerseits geht es um den Körpertausch der beiden männlichen Hauptfiguren – das alte Opernmotiv des Rollentauschs mittels Verkleidung wird hier, unter dem Einfluss von Wissenschaftsfantasien des 19. Jahrhunderts, auf die Physis selbst angewandt. Andererseits scheitern ihre kühnen Strategien: Sie haben sich von der spektakulären Erfindung die Erfüllung ihrer Wünsche und Neugierden erhofft, doch am Schluss sind sie die Dummen. Der einzige, der davon profitiert, ist der Scharlatan, der das Experiment in die Wege geleitet hat.

Libretto nach Théophile Gautier

Das Libretto, das vom Komponisten selbst verfasst wurde, basiert auf der Erzählung "Avatar" von Théophile Gautier (1811-1872), einem Autor, der heute weniger durch seine eigenen Werke bekannt ist als durch das bewundernde Portrait, das Charles Baudelaire von ihm entworfen hat. Die Handlung spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Entdeckungen der Wissenschaft die Alltagswelt revolutionierten und ein weltanschaulicher Positivismus aufkam, der glaubte, die Geheimnisse des Lebens mit physikalisch-chemischen Formeln erklären zu können; Parallelen zur heutigen Wissenschaftsgläubigkeit, von der Genforschung bis zur Kriegsplanung, sind unübersehbar.

Die Handlung vereint Ernst und Komik und würzt das Ganze mit einer starken Prise Skepsis. Octave, der von romantischem Weltschmerz geplagte Verehrer der verheirateten Gräfin Laura Czonowska, lässt sich vom Arzt und Magier Cherbonneau überreden, seinen Körper mit dem des Grafen zu vertauschen. Dieser lässt sich aus Neugierde ebenfalls auf Cherbonneaus Experiment ein. Die Transformation gelingt, Octave hat nun als "Graf Karol" Zugang zum Boudoir der Gräfin.

Doch Psyche und Bewusstsein spielen nicht mit, Verehrer und Angebetete bleiben einander fremd. Unterdessen tobt der transformierte Graf in Octaves ärmlicher Junggesellenwohnung herum, in die er verbannt wurde. Als sich der Graf schließlich mit Gewalt einen Zugang zu seinem eigenen Palais verschafft, in dem der junge Rivale nun residiert, kommt es zum Duell. Doch selbst dieses scheitert. Die in ihrer Identität vertauschten Duellanten zielen in die Luft – denn wer möchte gern auf seine eigene Gestalt schiessen? Reumütig kehren beide zu Cherbonneau zurück, um sich wieder ihre ursprüngliche Identität geben zu lassen. Der Graf wird nun wieder Graf, doch der unglückliche Liebhaber bleibt auf der Strecke: Der alte Cherbonneau selbst schlüpft jetzt in Octaves jungen Körper, nachdem er per testamentarische Verfügung die Übertragung des Vermögens auf seine neue Person geregelt hat.

Ein böser, schwarzer Schluss, der mit allen Illusionen aufräumt, die menschlichen Träume und Sehnsüchte könnten mittels der Techniken der instrumentellen Vernunft verwirklicht werden. Zurück bleiben ein gewissenloser Scharlatan, der seine pseudowissenschaftlichen Experimente zu knallhartem Eigennutz betreibt, und seine Haushälterin Jeannette, die das Ganze nicht so ganz durchschaut, aber als Vertreterin des gesunden Menschenverstands immerhin festzustellen vermag: "So machen es alle." Sie meint damit die Männer und ihren Machbarkeitswahn.

Zitate und Allusionen

Das Zitat aus Mozarts letzter Oper "Così fan tutte", das hier aus umgekehrter Geschlechterperspektive ausgesprochen wird, ist einer von vielen – literarischen, musikalischen und formalen – Verweisen auf eine Operntradition, in die Roland Moser sein Werk einbettet: die Tradition der komischen Oper, die eine Handlungsoper ist und soziale und psychologische Verhaltenweisen des Menschen auf durchaus realistische Weise zur Darstellung bringt.

Doch gattungsmäßig greift "Avatar" noch weiter aus. Die (französisch gesungene) Passage der Gräfin "Je frémis, je languis, je frissonne" im Schlussbild spielt auf Glucks "Orphée" an; die Verwendung von instrumentalen Formtypen wie Chaconne, Caccia oder Rondo erinnern an die Verfahren in Alban Bergs Oper "Wozzeck"; in dem als "Palimpsest" bezeichneten zweiten Bild, das im Palais der polnischen Gräfin spielt, ist es der Formplan einer Polonaise von Chopin, der von der Handlung "überschrieben" wird.

Ein Werk hingegen tritt nie in Erscheinung, obwohl die Verwandtschaft mit Händen zu greifen ist: "Hoffmanns Erzählungen" von Jacques Offenbach. Seine Themen sind das Scheitern aller romantischen Sehnsüchte in einer materialistischen Welt und die Unmöglichkeit des Erzwingens von Glück. Doch während bei Offenbach die Figur des Hoffmann noch in der Kunst eine Trösterin findet, endet Mosers Werk illusionslos. Das letzte Wort hat die kleinbürgerliche Jeannette: "Das geht so fort von Leib zu Leib, bis all's verreckt für Zeitvertreib."

© 2003 Max Nyffeler

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