Luciano Berio, der Avantgardist mit weitem Horizont

Zum Tod der Komponisten am 27.5.2003

Beim Begräbnis spielte die Dorfkapelle Polkas, und sein langjähriger Freund Umberto Eco hielt die Totenrede. Auf der einen Seite die Volksmusik, auf der andern der Zeichentheoretiker und weltbekannte Romanautor: Die beiden Pole bezeichnen recht genau die Spannweite des Schaffens von Luciano Berio, der am 27. Mai im Alter von 77 Jahren an einem Krebsleiden starb.

Zu seinen ersten Werken aus den vierziger Jahren gehören zwei Cori popolari und ein Preludio per una festa marina für Streicher. Seine Folk Songs von 1964 bildeten den Prototyp für viele ähnliche Nachfolgeprojekte anderer Komponisten; in ihnen wird Musik anderer Kulturen nicht touristisch vereinnahmt, sondern mit der eigenen Musiksprache zu fruchtbarer Synthese gebracht. Diese Art von Anverwandlung anderer Musikstile und -sprachen hat Berio zeitlebens gepflegt und augenzwinkernd als "musikalischen Kannibalismus" bezeichnet: Aneignung des Fremden mit Haut und Haar.

Opera aperta

Mit literarischem Kannibalismus, der gemeinsamen Arbeit über die onomatopoetischen Aspekte im elften Kapitel von Joyces Ulysses, begann auch Berios Freundschaft mit Umberto Eco. Dessen Buch Opera aperta (Das offene Kunstwerk), wurde durch Berio massgeblich beeinflusst. Es lieferte in den sechziger Jahren den Verfechtern der musikalischen Aleatorik wesentliche Argumente. Rückblickend äußerte sich Berio kritisch zur Wirkung von Ecos Werk. 1999 sagte er:

"Es behandelt sehr gut die literarische Seite, die Poesie, das Theater und Kino. Aber auf musikalischem Gebiet macht die Sache keinen Sinn. In der Musik hat es großen Schaden angerichtet. Viele Komponisten, die diese armseligen Imitationen von John Cage versuchten, machten aleatorische Sachen. Das war der Niedergang der Idee des offenen Kunstwerks."

Cage hatte 1958 an dem von Berio geleiteten Studio di Fonologia in Mailand sein Tonbandstück Fontana Mix produziert. Für Berio war er eine eindrucksvolle Erscheinung – als Lebensphilosoph und als Mensch, aber nicht musikalisch:

"Die Musik war eines der vielen Dinge, denen er nahe war – in ihren formalen, praktischen, äußerlichen Aspekten. Doch das hatte nichts mit einem musikalischen Text zu tun, weder konzeptionell noch real. Er stand außerhalb."

Am Begriff des musikalischen Texts, der das Werk möglichst genau kodifiziert, hielt Berio stets fest. Das Werk als fein strukturierter Kosmos, der nicht abstrakten Gesetzen folgt, sondern sich hörend erschließen lässt, und in dem Innen- und Außenwelt zusammenfallen wie bei der Hauptfigur von Un re in ascolto (Ein König horcht). Das 1984 in Salzburg uraufgeführte Bühnenwerk war nach La vera storia (Mailand 1982) das zweite große Opernprojekt, das er zusammen mit dem Schriftsteller Italo Calvino entwickelte. Als merkwürdiger Zufall erscheint es, dass die Uraufführung dieser "Musikalische Aktion", die die Aneignung der Welt durch das Hören zum Thema hat, im Abstand von nur wenigen Wochen zu derjenigen von Luigi Nonos Prometeo stattfand, dessen Untertitel "Tragödie des Hörens" auf eine ähnliche Thematik verweist.

Früher Zwölftonkomponist

Luciano Berio wurde 1925 in Oneglia (Ligurien) als letzter Spross einer alten Musikerfamilie geboren. Der junge Komponist gehörte 1949 zu den Teilnehmern eines von Hermann Scherchen in Mailand einberufenen Zwölftonkongresses. 1952 lernte er in einem Kurs bei Luigi Dallapiccola in Tanglewood (USA) die Dodekaphonie auch praktisch kennen, 1954 schloss er sich dem Darmstädter Komponistenkreis an. 1955 gründete er in Mailand zusammen mit Bruno Maderna das elektronische Studio di Fonologia und ein Jahr später die Incontri musicali, eine Konzertreihe für neue Musik samt gleichnamiger Zeitschrift. Mit Maderna verband ihn über die institutionelle Zusammenarbeit hinaus eine Künstlerfreundschaft, die ihren äußeren Ausdruck unter anderem darin fand, dass sie sich ihre Streichquartette von 1955 und 1956 gegenseitig widmeten.

1958 begann Berio mit seiner Sequenza I für Flöte die Serie von Solokompositionen, die 2002 mit der Sequenza XIV für Cello ihr Ende fand. Die Werkreihe ist ein einzigartiges Kompendium moderner Instrumentalmusik. In den brillant ausgearbeiteten Miniaturen verbindet sich die Erweiterung der instrumentaltechnischen Möglichkeiten mit einem Höchstmaß an künstlerischer Gestaltungskraft. Einige davon entwickelte er weiter zu konzertanten Stücken, die er unter dem Titel Chemins (Wege) ebenfalls zu einer Werkreihe zusammenfasste. Ein Prinzip der Transformation und Metamorphose, das für Berios prozesshaftes Denken charakteristisch ist und gewisse Ähnlichkeiten mit Boulez' Verfahren der "prolifération" (Wucherung) besitzt.

Der Avantgarde voraus

Die dritte Sequenza, ein Vokalsolo, schrieb Berio 1966 für Cathy Berberian. In deren spektakulärer Interpretation wurde sie zu einem Erfolgsstück der Avantgarde und nahm damit voraus, was sein Weggefährte Umberto Eco anderthalb Jahrzehnte später in seiner Nachschrift zum "Namen der Rose" mit Blick auf den Autor Leslie Fiedler theoretisch formulieren sollte:

"Er will ganz einfach die Schranke niederreißen, die zwischen Kunst und Vergnügen errichtet worden ist."

Die Zeit der publikumsfernen Avantgarde neigte sich damit ihrem Ende zu.

Die Frage des Publikums ist der neuralgische Punkt für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Berio hatte da keine Scheuklappen. Er ging auf die unterschiedlichen Hörwirklichkeiten im Zeitalter der Massenmedien ein, ohne sich je auf den faulen Kompromiss einer populistischen Ästhetik einzulassen. Seine 1968 mit den Swingle Singers und dem New York Philharmonic Orchestra uraufgeführte Sinfonia kann als Modell eines solchen Komponierens angesehen werden. Zitate von Bach bis Mahler und Schönberg, Textfragmente von Joyce bis Martin Luther King, Dokumentaraufnahmen von politischen Demonstrationen und alltägliche Gesprächsfetzen sind darin strukturell verarbeitet. Kein Wunder, dass ihr auch schon nachgesagt wurde, sie habe die Phase der musikalischen Postmoderne eingeläutet.

Als Bühnenkomponist trat Berio im letzten Jahrzehnt noch mit zwei großen Werken in Erscheinung: Outis (Mailand 1996) und La cronaca del luogo (Salzburg 1999). Sein vor kurzem stilsicher nachkomponiertes Finale für Puccinis Turandot wird sich vermutlich im Repertoire etablieren. Als Leiter des Computerstudios in Florenz, Präsident der römischen Konzertvereinigung Santa Cecilia und zuletzt auch als graue Eminenz des neuen Veranstaltungskomplexes "Parco della Musica" in Rom hatte er auf das italienische Musikleben bis zum Schluss einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Berio war eine der Gründerfiguren der Nachkriegsavantgarde und hat die Musik, jenseits aller Schulen und Gruppen, bis in die Gegenwart hinein nachhaltig geprägt.

© Max Nyffeler 2003

Bei dem Text handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung einem Beitrags für die Neue Zeitschrift für Musik (Schott, Mainz), Nr. 4/2003.

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