Das Interpretenportrait

Antoine Tamestit, Zukunftsmusiker

Seit Musik vorwiegend über die elektronischen Medien konsumiert wird und der Konzertsaal nicht mehr im Zentrum des Musiklebens steht, hat sich auch das Selbstverständnis des Interpreten gewandelt. Die Teufelsgeiger und Tastenlöwen sterben aus, an die Stelle des charismatischen Überwältigungsgehabes treten neue, pathosfreie Formen der Kommunikation mit dem Publikum. Dazu gehören auch die wieder erwachte Vorliebe für Kammermusik und eine ganz selbstverständliche Neugier für das zeitgenössische Schaffen. Dass das auch für das Publikum eine Chance und Herausforderung bedeutet, sei am Rande vermerkt.

Die internationale Jury, die dem jungen französischen Violaspieler Antoine Tamestit den mit 75.000 Schweizer Franken ungewöhnlich hoch dotierten „Credit Suisse Young Artist Award 2008“ zugesprochen hat, hat damit einen Musiker honoriert, der genau diesem neuen Interpretentypus entspricht. Der 1979 in Paris geborene Musiker mit nordafrikanischen Vorfahren kann bereits auf eine respektable Karriere zurückblicken und hat eine Reihe von internationalen Auszeichnungen erhalten, darunter den ersten Preis des Münchner ARD-Musikwettbewerbs 2004. Mit Jean Sulem, Mitglied des Pariser Ensemble Intercontemporain und Mitbegründer des Rosamunde Quartetts, und Tabea Zimmermann, Bratschistin von weltweitem Ruf, hatte er zwei Lehrer, die ihm das ganze Spektrum der Musik vom Barock bis zur Gegenwart vermittelten und ihm beibrachten, wie man das schmale Repertoire für Viola zukunftsträchtig erweitert.

Konzertante Werke und Solostücke des 20. Jahrhunderts von Bartók bis Schnittke, von Bernd Alois Zimmermann bis Tristan Murail spielt Tamestit mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie das klassische Repertoire; auf einer Solo-CD kombiniert er die für Viola bearbeitete Bach-Partita BWV 1004 mit der Sonate von György Ligeti. Tabea Zimmermann war es auch, die ihn als Kammermusiker in Lockenhaus und an anderen einschlägigen Orten einführte. Heute hat er mit dem Geiger Frank Peter Zimmermann und dem Cellisten Christian Poltéra ein festes Trio, auch mit den Gebrüdern Capuçon ist er häufig im Konzert zu hören.

Antoine Tamestit, der nun bei der Preisverleihung im Rahmen des Lucerne Festivals 2008 mit den Wiener Philharmonikern das Bratschenkonzert von Bartók auf seiner Stradivari mit verhaltener Expressivität und intensiv leuchtenden Ton und zum Klingen brachte, ist eine freundliche, unprätentiöse Erscheinung, doch hat er genaue Vorstellungen von seiner Rolle im zeitgenössischen Musikleben. Von einer Krise der klassischen Musik will er nichts wissen und beruft sich dabei auf seine Beobachtungen: Er konstatiert ein gesteigertes Publikumsinteresse an neuen Ideen.

Die Zukunft der Musik will er aktiv mitgestalten. Schon seit längerem steht er mit einigen Komponisten im Gespräch wegen Uraufführungen, und einen größeren Teil des Preisgelds, das er jetzt entgegennehmen konnte, will er für weitere Kompositionsaufträge ausgeben – Gemeinschaftsgeist geht für ihn vor künstlerischem Ego-Trip.

© Max Nyffeler, 2008
Eine kürzere Version dieses Texts ist erschienen in der FAZ, 22.9.2008

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