Jossi Wielers Siegfried-BabyDer dritte Teil des Stuttgarter "Ring des Nibelungen" auf DVD
Das Regiekonzept scheint direkt von der Erscheinung des Hauptdarstellers abgeleitet. Der stimmlich überaus versierte Jon Fredric West ist ein Siegfried von massiver Gestalt mit einer eher weichen Körpersprache. In Wielers psychologisch geschärfter Fantasie wird aus ihm ein groteskes Riesenbaby, das weder mit der Welt noch mit sich selbst zurecht kommt und über seine eigenen Füße stolpert. Es hat eine lange Mähne, trägt Jeans und ein T-Shirt, auf dem groß "Sieg Fried" geschrieben steht. Tolpatschig irrt dieser Siegfried durch die Geschichte. Den pubertierenden elternlosen Lümmel, dem jeglicher Sinn für Verantwortung, Lebensart und Rücksicht auf andere fehlt, nimmt man ihm problemlos ab. Er ficht mit seinem Ziehvater Mime (dem vorzüglichen Heinz Göhrig) ödipale Kämpfe am Esstisch aus, den Drachen ersticht er fast wie aus Versehen ein von keiner Moral angefochtener Haudrauf, der nur seinem Lebensinstinkt folgt und seinem heimlichen Protektor Wotan (Wolfgang Schöne) zu allerschönsten Hoffnungen Anlass gibt. Wotan ist bei Wieler ebenfalls ein Outlaw, Typ amerikanischer Wanderarbeiter, eine Art Edel-Hobo mit Schirmmütze, Jeans und schwarzer Lederjacke. Beim grausamen Ratespiel mit Mime lässt er locker seinen Revolver um den Zeigefinger kreisen, und der Urmutter Erda zwingt er bei seiner Stippvisite mit roher Gewalt seinen Willen auf. Siegfrieds Tolpatschigkeit ist bis zum letzten Takt konsequent durchgezogen. Wenn er auf die schlafende Brünnhilde trifft sie residiert in einer großbürgerlichen, hell erleuchteten Wohnsuite , versteckt er sich vor Angst erst einmal im Schrank und hinter dem riesigen Bett. Die Brünnhilde der Lisa Gasteen steht Siegfried von der äußeren Erscheinung her kaum nach, was Wieler mit feinem Gespür dazu nutzt, das von hintergründiger Berührungsangst durchzogene Liebesduett tüchtig mit Situationskomik aufzuladen. Als Subtext schimmert die Parodie von Wagners Heroenpathos durch. Das ist öfters lustig, doch tritt hier auch die latente Schwäche der Inszenierung offen zu Tage. Sie verliert sich in den Nebenschauplätzen des inneren Dramas und verkündet eine coole postmoderne Skepsis gegenüber der Liebe, die hier, von der Gewalt der Musik getragen, wie ein Blitz in die Seelen einschlägt. Dafür wird in den Schlusstakten das Hin und Her von Wagners Quartenmelodik im 4/4-Takt durch ein stures Gezerre mit dem Bettuch persifliert ein witziges Aperçu, das nur leider an der Hauptsache dieser Szene völlig vorbei geht und im Slapstick landet. So weit, so klar. Eine Erklärung bleibt diese Inszenierung jedoch schuldig: Warum holt sich Mime im ersten Aufzug, nach Wotans Abgang, einen herunter? Todesangst erzeugt doch nicht gerade einen Viagra-Effekt. © Max Nyffeler 2004
(Mai/2004) |