Auf den Spuren von Charles IvesDie wegweisende Dokumentationsreihe „Keeping Score“ mit Michael Tilson Thomas und dem San Francisco Symphony Orchestra
Ein leuchtendes Beispiel für eine solche Erziehungsarbeit stellen die Aktivitäten des San Francisco Symphony Orchestra unter der Leitung seines Chefs Michael Tilson Thomas dar. Dokumentiert sind sie auf einer DVD-Reihe mit dem Titel „Keeping Score“. Sie erscheint seit einigen Jahren und kann Modellcharakter für das Genre beanspruchen. Der Ausdruck ist geschickt gewählt, denn er schlägt eine Brücke zum Lebensalltag. Eigentlich gehört er in die Sphäre des Sports, wo er das Anschreiben der erzielten Punkte auf einer Tafel meint. Doch „score“ ist auch die Partitur, also ein musikalischer Begriff. Der Ansporn, Punkte zu machen, verbindet sich mit dem Appell an die musikalische Neugierde. Unterrichtseinheiten im InternetDie DVDs werden vom Orchester in eigener Regie hergestellt und vertrieben. Die Filmautoren sind Joan Saffa und David Kennard, verantwortlich für Gesamtproduktion zeichnen Michael Tilson Thomas und Orchestermanager John Kieser; letzterer taucht auch regelmäßig bei den großen Branchentreffs in Europa auf, um die DVDs zu promoten. Ursprünglich als Werbemittel zur Pflege des lokalen Konzertpublikums gedacht, sind sie inzwischen auch im internationalen Handel erhältlich. Im Internet sind sie über keepingscore.org zu beziehen. Auf dieser interaktiven Webseite erhält man außerdem einen Einblick in Machart und Verwendungsmöglichkeiten der Filme, und neuerdings werden hier sogar damit verbundene Unterrichtseinheiten für Schulen angeboten. Finanziert werden die Filme durch Zuschüsse von musikbegeisterten Privatleuten oder personenbezogenen Stiftungen. Im Abspann der DVD mit Charles Ives’ Holidays Symphony heißt es dann zum Beispiel: „The Evelyn and Walter Haas jr. Fund salutes the San Francisco Symphony for their committment to bring the wonder of classical music to all people everywhere.“ Die neusten Produktionen porträtieren die Holidays Symphony von Charles Ives, die Symphonie fantastique von Hector Berlioz und die problematische Fünfte von Dmitri Schostakowitsch. Sie alle folgen den Standards, die die allererste Produktion der Reihe über Strawinskys Sacre du printemps gesetzt hat. Jede DVD enthält neben einer Gesamtaufführung des Werks eine rund einstündige, aufwändig gemachte Dokumentation. Sie zeigt Auschnitte aus Proben und Konzerten, gemischt mit historischen Dokumenten und mit aktuellen Aufnahmen von den Schauplätzen der Entstehung und Uraufführung der Werke; dazu kommen Interviews mit Orchestermusikern, die ihre subjektiven Eindrücke vom Werk schildern und am Instrument Besonderheiten ihrer Partien demonstrieren. Michael Tilson Thomas, der große KommunikatorRückgrat und roter Faden in der reichhaltigen, brillant zusammengefügten Materialsammlung sind die blitzgescheiten und dabei nie fachsimpelnden Kommentare von Michael Tilson Thomas. Als Kenner der Partitur und ihrer geschichtlich-biografischen Hintergründe, als musikalischer Praktiker und feuriger Erzähler gelingt es ihm, mit wenigen Worten das Wesentliche zu erfassen und die großen Zusammenhänge aufzuzeigen. Analytische Bemerkungen sind stets allgemein verständlich gehalten, werkbezogene und biografische Daten klug ineinander verschränkt, die Argumentation ist konsequent am Verständnishorizont des Zuschauers/Zuhörers ausgerichtet. Wie geschickt Thomas den Laien ansprechen kann, ohne belehrend oder gar herablassend zu wirken, zeigt sich nicht nur in der überlegenen Art, mit der er die komplizierte Dialektik von Musik und Politik in Schostakowitschs fünfter Sinfonie herausarbeitet, sondern auch dort, wo er auf die Schwierigkeiten beim Hören von Ives’ Holidays Symphony zu Sprechen kommt: „Als ich seine Musik zu ersten Mal hörte, war ich dreizehn, und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich fand sie so widersprüchlich und verwirrend. Zuerst lullt er mich mit wunderschönen Melodien ein, und dann verpasst er mir musikalische Kinnhaken. Was will er damit erreichen? Will er mich provozieren, dass ich aufstehe und mich mit ihm um Schönheit, Wahrheit und den american way prügle?“ Und er gibt selbst die Antwort: „Zweifellos will uns Ives provozieren. Er fordert uns heraus, so über Musik nachzudenken, wie wir es nie zuvor getan haben.“ („Die Musik in einem neuen Licht zu sehen“, heißt es hier in den suboptimal übersetzten deutschen Untertiteln.) Diese kurze Textpassage wird von insgesamt acht verschiedenen Bildeinstellungen begleitet, und beim Stichwort „american way“ folgt zum Klang einer turbulenten Tuttistelle eine ebenso turbulente Bildmontage mit kreisenden Stars and Stripes, Orchesters und Dirigent. Mit einem Augenzwinkern fügt dann Thomas hinzu: „Er ging regelmäßig in die Kirche und spendete für wohltätige Zwecke. Heute wäre er der perfekte Präsidentschaftskandidat.“ In diesem amerikanischsten aller amerikanischen Werke zeigt sich der Dirigent von einer ganz persönlichen Seite es ist die eigene Kultur, über die er spricht. Michael Tilson Thomas ist fachliche Autorität und begnadeter Kommunikator in einer Person, darin bei allen Unterschieden im Naturell einem Leonard Bernstein vergleichbar. Hinter der sorgfältig kontrollierten, stets etwas kühlen Fassade des Medienprofis kommt immer wieder der begeisterte Anwalt für die Sache zum Vorschein. Das wirkt ansteckend auf den Zuschauer. Er wird auf eine musikalische Entdeckungsreise mitgenommen, die ihn nicht nur das Werk selbst mit seinen Besonderheiten, sondern auch die geschichtlichen Hintergründe und das kulturelle Umfeld auf anschauliche Weise erleben lässt. Die DVD erweist sich dafür als ideales Medium. Kostbares Bildmaterial, brillante TechnikDer zweite Trumpf dieser Werkporträts ist neben der Person des Dirigenten die Filmtechnik. Der Aufwand ist enorm. So wurden zum Beispiel, wie in einem Zusatztrack zu sehen ist, auf dem Orchesterpodium extra Schienen eingebaut, auf denen die Kameras ferngesteuert durch die Reihen der Musiker fahren können; die Installation demonstriert den Doppelcharakter des SFS als Konzertsaal- und Medienorchester. Und es wird kein Aufwand gescheut, um authentische Aufnahmen von den Orten der Entstehung der Werke zu machen. Für Schostakowitschs Fünfte wühlte man sich durch die Filmarchive, um die stalinistischen Schreckensjahre um 1937 zu dokumentieren und besuchte die russischen Städte, für die Symphonie Fantastique von Berlioz nach Paris und in die Geburtsstadt des Komponisten in der französische Provinz. Zur Holidays Symphony gibt es betörende Landschaftsaufnahmen aus Connecticut, wo Ives aufwuchs, und als Highlight lässt der Film zwei Blasmusikkorps in historischen Uniformen gegeneinander marschieren, wie es einst Ives’ Vater praktizierte und wie es der Komponist später in seinen Themencollagen der Holidays Symphony nachvollzog. Ebenso einzigartig wie die Auswahl der Materialien sind die Montageverfahren. Sie folgen strikt funktionalen Grundsätzen und sind ganz auf die optimale Vermittlung der Inhalte ausgerichtet. Transparenz der Wahrnehmung ist dabei oberstes Gebot. Bei altem Dokumentationsmaterial werden zum Beispiel die unterschiedlichen technischen Standards nicht angeglichen, sondern im Gegenteil betont, um eine historische Tiefenperspektive zu erzeugen. Der Schnittrhythmus wird als Mittel zur Kommentierung und Verdeutlichung der Inhalte eingesetzt, etwa in jener Passage im Film über Schostakowitschs Fünfte, die einen Rückblick auf den russischen Konstruktivismus des 1920er Jahre unternimmt: Charakteristische Motive der damaligen Sowjetkunst werden hier zu einer virtuosen Schnittfolge montiert, die die konstruktivistischen Verfahren im Medium des Films gekonnt weiterführt. Die Filmmontage hat generell die Aufgabe, die Kommentare des Dirigenten optisch wirkungsvoll zu unterstützen, und macht die verbalen Aussagen damit im Wortsinn anschaulich. Wenn Thomas von den konkreten Einflüssen der Volksmusik in Strawinskys Sacre spricht, wird taktgenau von den Geräuschinstrumenten einer russischen Folkloregruppe auf die entsprechende Stelle im Orchesterwerk „umgeschaltet“, bei Demonstrationen am Klavier wird die Kameraeinstellung auf die Tasten bruchlos mit Bild und Klang des Orchesters überblendet. Die „Keeping Score“-Produktionen sind deswegen so überzeugend geraten, weil es ihnen gelingt, Hören und Sehen auf kluge Weise miteinander zu verbinden und den Gehalt der Werke mit intelligenten Kommentaren nach allen Seiten hin auszuleuchten. Zu ihren großen Pluspunkten gehört es, dass sie sich an ein breites Publikum wenden. Der erwachsene Laie kommt ebenso auf seine Rechnung wie der Schüler, und auch den Kenner überraschen die hochprofessionell gemachten Filme immer wieder mit neuen Perspektiven auf die scheinbar bekannten Werke. © Max Nyffeler (April 2010)
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