Karajan, Solti, Bernstein: Drei Dirigenten, scharf beobachtet

Brüchiges Monument: Der späte Karajan

Cover Karajan/BrucknerDie Preisgabe von Macht und Demontage der Herrschenden boten schon immer ein faszinierendes Schauspiel, das weiß man nicht erst seit Shakespeare. Das gilt auch für die symbolischen Herrscher am Dirigentenpult. Vorzügliches Anschauungsmaterial zu diesem Thema bieten die Filmaufnahmen des späten Karajan mit der Achten und Neunten von Bruckner, die das Label Sony BMG zum 100. Geburtstag des Dirigenten im vergangenen Jahr herausgebracht hat. Sie entstanden 1985 und 1988 – bei letzterer war Karajan gerade achtzig, und im Jahr darauf starb er.

Die Imperatorengeste, die sein Dirigieren stets charakterisiert hat, ist hier zwar nicht verschwunden, aber extrem zurückgenommen. Das ist offenkundig auf sein Rückenleiden zurückzuführen, das ihn im letzten Lebensabschnitt plagte. Er dirigiert mit steifem Oberkörper, den Kopf meist geradeaus gerichtet und ohne Drehung in der Körperachse, die Bewegungen sind reduziert und erfolgen nur noch aus den Armen heraus. Wettgemacht werden diese Beschränkungen allerdings durch eine enorm differenzierte Gestik bis in die Fingerspitzen hinein; die wichtigen Impulse kommen häufig von der linken Hand. Die Ausdrucksgesten haben sich in die äußerste Körperperipherie verlagert, doch in ihrer Konzentration verströmen sie noch immer die Suggestivkraft des Pultschamanen, der Karajan stets war. Ein Fortissimo kann er aus dem Handgelenk heraus, einen harten Akzent mit einem Wink des Zeigefingers erzeugen.

So etwas gelang auch Karajan nur mit Orchestern, mit denen er so vertraut war, dass sie ihm auch noch mit verbundenen Augen hätten folgen können, wie den Wiener Philharmonikern in der Achten und den Berlinern in der Neunten. Die Achte ist ein Musterbeispiel. Im Kopfsatz dirigiert er manchmal einen ganzen Schlag voraus, es herrscht vollkommenes Einvernehmen. Die Tempi kann er sehr breit nehmen, für die Wiener ist es eine Steilvorlage zur Entfaltung ihres luftigen Schönklangs. Das „Allegro moderato“ des Scherzos gerät dann aber doch reichlich behäbig, im rubatofrei durchgeschlagenen Hauptteil wirken die gegenläufigen Bewegungsmuster starr, schematisch und leicht komturhaft. Im Vergleich dazu klingt die EMI-Aufnahme von 1979 mit dem auch schon immerhin 67-jährigen Günter Wand viel lebendiger und richtig jugendfrisch. Mit dem riesigen Adagio balanciert Karajan dann auf atemberaubende Weise auf dem schmalen Grat zwischen formalem Zerfall und Zusammenhalt, und die triumphale Coda des Schlusssatzes kostet er aus, als wäre es das letzte Mal.

Auf dieser DVD ist Karajan, Inbegriff des modernen Herrschers über Musik, Musiker und Musikbetrieb, als brüchiges Monument seiner selbst zu erleben, und das hat seine hohen Reize. Schade, dass sie so schlampig ediert ist. Man erfährt nicht einmal, welche Versionen der beiden Sinfonien gespielt werden.

DVD: Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker, Berliner Philharmoniker: Anton Bruckner, Sinfonien Nr. 8 und 9  / Ton: Stereo und Dolby 5.0 /  Bild NTSC 4:3 / 142 min. / Sony BMG 88697202399

Der Routinierte: George Solti

Cover George SoltiDas von amerikanischen Investoren kontrollierte Medienunternehmen Medici Group hat 2004 die im Konzert- und Opernsektor sehr aktive Musikfilmproduktion EuroArts gekauft und ist seither dabei, unter dem Label Medici Arts einen umfangreichen europäischen DVD-Katalog mit namhaften Interpreten und Standardwerken aus Klassik und Romantik aufzubauen. Die Produktionen der dreißig Jahre alten Firma EuroArts erscheinen aber weiterhin mit ihrem eigenen Logo; zusätzlich hat in England eine Kooperation mit der BBC und dem Royal Opera House begonnen, aus deren Archiven in den nächsten Jahren vermutlich noch manches den Weg auf den Markt finden wird.

Zum DVD-Katalog von Medici Arts gehören neuerdings auch Konzertaufnahmen aus der 1966 von Leo Kirch ins Leben gerufenen Unitel-Musikfilmproduktion. Sie sind als Dirigentenporträts konzipiert und präsentieren Werke des Standardrepertoires. Eines der Zugpferde für den Anfang ist George Solti. Er dirigiert Beethovens Erste bei den Proms in der Londoner Royal Albert Hall sowie die Sinfonien Nr. 6 und 8 von Schubert in Chicago, beide Male mit dem Chicago Symphony Orchestra. Die DVD bringt im Grunde genommen nichts, was eine Visualisierung rechtfertigen würde. Es sind sehr konventionelle Konzertmitschnitte, und auch die musikalische Interpretation ist ziemlich middle of the road. Dem bekannten Bild des Dirigenten wird nichts Neues hinzugefügt. Zwischen den üblichen Orchesterperspektiven sieht man ihn mit seinen typischen zuckenden Aufwärtsbewegungen als energischen Chef, der alles perfekt im Griff hat. Auch seine kurze Einführung in die beiden Schubert-Sinfonien vor der Kamera folgt nur dem traditionellen Konzertführermodell. Die paar Informationen mögen aus dem Munde des prominenten Dirigenten zwar größere Autorität ausstrahlen als in gedruckter Form, mehr als Routine kommt dabei aber nicht heraus.

DVD: George Solti, Chicago Symphony Orchestra: Werke von Beethoven und Schubert / Ton: Stereo, Dolby 5.1 und DTS 5.1 / Bild: NTSC 4:3 / 105 min. / Medici Arts 2072468

Der große Kommunikator: Leonard Bernstein

Cover Bernstein BrahmsCover Bernstein SHFViel ergiebiger ist da schon Bernstein, von dem zwei DVDs vorliegen: Aufnahmen von 1972 aus Tanglewood mit den Sinfonien Nr. 2 und 4 von Brahms mit dem Boston Symphony Orchestra und vom Schleswig-Holstein-Musikfestival 1988 mit der Ersten von Schostakowitsch; hier dirigiert er das Jugendorchester, das er mehrere Jahre lang betreute. Bei den Aufnahmen aus Tanglewood lernt man Bernstein als souveränen Brahms-Dirigenten kennen, der Strukturbewusstsein und emotionale Dimension ins Gleichgewicht zu bringen versteht. Seine Art zu dirigieren ist der Stil eines begnadeten Musikdarstellers, der genau weiß, dass nun auch in der Klassikinterpretation die audiovisuelle Ära angebrochen ist und ein Orchesterleiter nicht für die Musiker und das Saalpublikum, sondern auch für die Kamera zu dirigieren hat. Form und Ausdruck der Musik übersetzt er in der für ihn charakteristischen Weise in Gesten und Mimik. Er ist sozusagen aufgespalten in zwei Personen: Die eine übernimmt eine funktionale Rolle und gibt den Musikern die Anweisungen zur Interpretation des Werks, die andere spielt den Darsteller, der das Werk zugleich pantomimisch interpretiert. Bernstein erweist sich schon hier als Meister im Umgang mit den zwitterhaften audiovisuellen Medien: Seine expressive Körpersprache behält er stets unter Kontrolle und gleitet nie in übertriebene Schauspielerei ab.

Ist der Brahms-Mitschnitt aufschlussreich hinsichtlich Bernsteins Dirigiertechnik, so zeigen ihn die Aufnahmen mit der ersten Sinfonie von Schostakowitsch als begnadeten Orchestererzieher. Der erste Teil bringt einen rund vierzigminütigen Zusammenschnitt der Proben mit dem Schleswig-Holstein Festivalorchester. In Körpersprache und Mimik hält sich Bernstein gegenüber den jungen Musikern klug zurück, doch wie er ihnen mit wenigen, prägnanten Sätzen den Charakter der Musik erklärt und sie dann Schritt um Schritt zur Realisierung seiner Zielvorstellungen anleitet, verrät den genialen Pädagogen und unwiderstehlichen Kommunikator. Der Lernfortschritt von der ersten Probe bis zum Konzertauftritt ist gewaltig, und aus der Rückblende entpuppt sich der Einfall, Bernstein als Orchesterpädagogen zu verpflichten, als die vielleicht beste Idee des damaligen Festivalleiters und Entertainers Justus Frantz.

© Max Nyffeler 2009

DVD: Leonard Bernstein, Boston Symphony Orchestra: Brahms, Sinfonien Nr. 2 und 4 / Ton: Stereo, Dolby 5.1 und DTS 5.1 / Bild: NTSC 4:3 / 95 min. / Medici Arts 2072138
Leonard Bernstein, Schleswig-Holstein Festivalorchester: Schostakowitsch, Sinfonie Nr. 1 / Ton: Stereo, Dolby 5.1 und DTS 5.1 / Bild: NTSC 4:3 / 85 min. / Medici Arts 2072158

(Januar 2009)

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