Wergo, das Traditionslabel für neue MusikAuch vier Jahrzehnte nach seiner Gründung bleibt Wergo der Aktualität auf der SpurIn den sechziger Jahren, als die Stereo-Langspielplatte ihren Siegeszug angetreten hatte und der Avantgarde noch das Flair von Underground anhaftete, machte unter den Anhängern der neuen Musik das Gerücht von einer kleinen Plattenfirma die Runde, die die neusten und radikalsten Hervorbringungen der Gegenwartsmusik produzierte. Die vokalen Hochseilakte einer Cathy Berberian, die den Gesang bis zum Lachen, Heulen und Zwitschern ausweitete, die abstrakten "Structures" für zwei Klaviere von Pierre Boulez, von den Gebrüdern Kontarsky zu grandioser Unnahbarkeit gebracht, der quasi-wissenschaftliche Ansatz eines Karlheinz Stockhausen, in "Kontakte" instrumentale und elektronische Klänge zu verschmelzen, Gerd Zachers kunstvolle Verwandlung der Orgel in ein schwer schnaufendes, fantastische Töne absonderndes Ungetüm: Das alles war auf diesen Platten zu hören, nebst ausgewählten Werken der klassischen Moderne. Wergo hiess das geheimnisvolle Label, das diese Pionierarbeit leistete, und es grenzt an ein kleines Wunder, dass es sich in einer Zeit, da die CD-Branche in einer Dauerkrise steckt, noch immer am Leben hält. Hinter der kryptischen Bezeichnung steckt der Name seines Gründers: Werner Goldschmidt, ein Baden-Badener Geschäftsmann mit einem Faible für moderne Kunst und Musik, hatte das avantgardistische Unternehmen auf Anregung des Kölner Musikwissenschaftlers Helmut Kirchmeyer 1962 ins Leben gerufen. Mit selbstlosem Engagement produzierte Goldschmidt rund dreissig Platten, bis er 1970 das Label dem Musikverlag Schott überliess, der es bis heute erfolgreich weiterführt. Ein Stück SchallplattengeschichteEin aufklärerisch-dokumentarischer Anspruch war mit der Plattenedition des ersten Jahrzehnts verbunden. In die vorbildlich gestalteten Alben, deren rot-schwarze Typografie auf weissem Cover kühle Sachlichkeit und zugleich unbedingte Aktualität verhiess, waren eng bedruckte Einlagen von zwölf und mehr Seiten eingeheftet. Sie enthielten ausführliche Erläuterungen der Werke mit akribischen Strukturanalysen und Notenbeispielen, wissenschaftliche Fußnoten inbegriffen. Mit dem Plattenkauf erwarb man sich auch gleich ein Stück Theorie der neuen Musik. Einen Höhepunkt dieser Bestrebungen, die neu entdeckten Klangwelten einem interessierten Publikum näher zu bringen, bildete die 1963 produzierte "Einführung in die elektronische Musik" von Herbert Eimert. Auf zwei Plattenseiten dozierte der damalige Leiter des Studios für elektronische Musik Köln mit Klangbeispielen und im ultimativen Tonfall der unangreifbaren Autorität über Tongemische, synthetische Klangfarbenprozesse, Hüllkurven und Rauschgeneratoren. Heute sind diese Alben echte Sammlerexemplare. Kaum zu glauben, dass vierzig Jahre später manche der frühen Produktionen, die Schallplattengeschichte gemacht haben, neu ediert als CompactDiscs noch immer im Wergo-Katalog stehen. In der Regel sind sie mit den Uraufführungsinterpreten zu hören. So etwa Stockhausens "Kontakte" von 1960 mit David Tudor am Klavier, die "Structures" mit den Gebrüdern Kontarsky, György Ligetis "Aventures" und "Nouvelles Aventures" mit William Pearson und dem Internationalen Kammerensemble Darmstadt unter Bruno Maderna, "La fabrica illuminata" von Luigi Nono mit Carla Henius oder zwei frühe Werke von Mauricio Kagel: das schräge Orchesterstück "Heterophonie" mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter Michael Gielen und die provokanten "Improvisations ajoutées" für Orgel mit Gerd Zacher. Von Hindemith zu CageVon den siebziger Jahren an wurde das Themenspektrum planmässig erweitert. Um 1990 entstand unter der Rubrik "Music of World Cultures" mit traditioneller ethnischer Musik und ihren heutigen Mischformen sogar ein ganz neues Tatigkeitsgebiet. Im Zentrum steht aber nach wie vor die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts mit ihren beiden Zweigen klassische Moderne und aktuelle Tendenzen. In der klassischen Moderne bildeten sich zwei Schwerpunkte mit Werken von Paul Hindemith und Carl Orff, Hausautoren von Schott, heraus. Neuster Titel der inzwischen auf über zwei Dutzend CDs und eine CD-ROM angewachsenen Hindemith-Edition ist die Kepler-Oper "Die Harmonie der Welt". Der um 1940 begonnene und erst im Uraufführungsjahr 1957 fertig gestellte Fünfakter ist nun in einer Produktion mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Marek Janowski erschienen. Es handelt sich um die Ersteinspielung dieses bedeutenden Spätwerks von Hindemith. Unvergleichlich dichter folgten sich die Neuerscheinungen im aktuellen Bereich. So ist seit den siebziger Jahren eine John Cage Edition mit nicht weniger als achtzehn Titel heran gewachsen. Dazu gehört als besonderes Highlight die Dokumentation des historischen Konzerts, das am 15. Mai 1958 in der Town Hall New York stattfand und eine Retrospektive auf 25 Schaffensjahre Cages bot. Zu den Veranstaltern gehörten damals die Maler Robert Rauschenberg und Jasper Johns. Die 1994 erschienene Dreierkassette enthält den Uraufführungsmitschnitt des Konzerts für Klavier und Orchester mit David Tudor am Klavier und Merce Cunningham als Dirigent. Das später als skandalträchtig eingestufte Werk erntet hier wie ein Jazzkonzert einigen Zwischenapplaus, zum Schluss wird es begeistert akklamiert. Ausgrabungen von Bern Alois ZimmermannAutoren des Schott-Verlags sind bei Wergo verständlicherweise besonders gut vertreten. Von Ligeti sind auf neun CDs große Teile seines Oeuvres dokumentiert. Henze ist mit sechs Titeln, darunter den Bühnenwerken "La Cubana" und "Die Englische Katze" präsent. Von Bernd Alois Zimmermann, einem weiteren Schott-Autor, wurde die Kölner Uraufführungsproduktion der "Soldaten" von 1965 mit Michael Gielen leider aus dem Programm genommen. Dafür ist vor kurzem eine Auswahl von Orchesterwerken erschienen, die interessante Einblicke in Zimmermanns frühe Entwicklung bietet. Sie enthält unter anderem die brasilianisch angehauchte Ballettsuite "Alagoana" (1950-55) und, als Mitschnitt der späten Uraufführung von 2001 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die "Märchensuite" für Orchester aus dem Jahr 1950. Dirigent der in die Bestenliste der deutschen Schallplattenkritik aufgenommenen Produktion ist Peter Hirsch, der diese unbekannten Werke auch ausgegraben hat. In mehreren Serien werden Spezialgebiete der neuen Musik dokumentiert. Unter dem Reihentitel "Digital Music Digital" ist mit dreiundzwanzig Ausgaben über Jahre hinweg die vermutlich größte am Markt erhältliche Dokumentation von Computermusik entstanden. In der "Edition ZKM" werden Produktionen, die im Karlsruher Zentrum für Kunst- und Medientechnologie entstanden sind, vorgestellt. Das reicht von Werken computererfahrener Komponisten wie Mesias Maiguashca und Johannes Goebel bis zu den spielerischen "Unceremonious Processions" der Australierin Elena Kats-Chernin und den "Etudes d'après Séraphin", dem bislang einzigen Werk mit Elektronik von Wolfgang Rihm. Synergien und KooperationenEine Reihe, die vor allem der Nachwuchsförderung dient, wird in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Musikrat herausgegeben: die "Edition Zeitgenössische Musik". Viele Komponistinnen und Komponisten der jüngeren Generation konnten hier ihre Erstlings-CD veröffentlichen. Von Konzeption und Mischfinanzierung her erinnert die bisher über fünfzig Titel umfassende Edition an die Reihe "Musikszene Schweiz", die für schweizerische Komponisten eine ähnliche Aufgabe erfüllt. Die Publikation von Tonträgern sei im Grunde die Fortsetzung verlegerischer Aufgaben mit andern Mitteln, erklärt Peter Hanser-Strecker, Chef des traditionsreichen Schott-Verlags, der heute Schott Music and Media GmbH heisst. In der Tat sind in dieser Konstellation viele Synergieeffekte möglich, die die vielfältigen Formen der Kooperation mit andern Institutionen sinnvoll ergänzen. Organisatorische Anbindung in einen gut funktionierendes mittelständisches Musikunternehmen, Konzentration auf das angestammte Geschäft mit der neuen Musik und keine Kompromisse in der künstlerischen Qualität: Auf diesem Boden ist die Wergo-Erfolgsstory gewachsen, und es macht den Anschein, dass das auch für morgen noch gilt. Max Nyffeler AuswahldiskografiePierre Boulez: Structures für 2 Klaviere. Alfons und Aloys Kontarski. 6011-2 Die Printversion dieses Artikels ist am 16.4.2003 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. zurück zu Rezensionen |