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"Musik in Deutschland 1950-2000"

Sinfonik aus fünf Jahrzehnten - Sechs von 150 CDs aus der vom Deutschen Musikrat herausgegebenen Edition

Von Max Nyffeler

Kennen Sie Fidelio F. Finke? Es wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Sie den Namen noch nie gehört haben sollten. Immerhin, im Riemann-Musiklexikon ist er als deutscher Komponist mit Jahrgang 1891 aufgeführt. Er studierte und unterrichtete in Prag, wurde 1919 Mitglied der deutschen Staatsprüfungskommission für Musik und 1920 Staatsinspektor der deutschen Musikschulen in der tschechoslowakischen Republik, erhielt 1928 einen Staatspreis und wurde 1946 Direktor der Staatlichen Akademie für Musik in Dresden. Ziemlich viel Staat auf einmal, aber so war das offenbar damals.

Auch mir war Fidelio F. Finke unbekannt, bis ich auf einer gerade erschienenen CD seinen Namen sah und "Fugato und Fanfare" aus seiner 3. Suite für Orchester hörte. Er war offensichtlich ein Meister des gelehrten, an Reger geschulten Kontrapunkts, den er mit einem populären Tonfall zu verbinden wusste. Es klingt sehr nach jener soliden deutschen Heiterkeit, deren Urbild  in Wagners Meistersingern zu finden ist. Dazu noch ein wenig Volksliedmelodik und bei aller aufgezwirbelten Gute-Laune-Stimmung eine doch eher sachliche Grundhaltung. Die Komposition des Dresdner Hochschuldirektors wurde 1949 uraufgeführt.

Fidelio F. Finke: 3. Suite für Orchester (Fugato und Fanfare)

So klang es also 1949, im Gründungsjahr des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaats, in den ostdeutschen Konzertsälen. Daß dieses und andere Tondokumente aus Zeiten, die inzwischen längst vergessen oder verdrängt sind, heute wieder zugänglich sind, ist einem großangelegten Editionsprojekt des Deutschen Musikrats zu verdanken, dessen erste Resultate in diesem Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind. Sein Titel: "Musik in Deutschland 1950-2000". Geplant sind insgesamt 150 CDs, die in den kommenden Jahren erscheinen sollen. Hergestellt und vertrieben wird das Ganze von BMG Ariola, die mit dieser subventionierten Produktion ein willkommenes Argument gegen die jüngst aufgetauchten Vorwürfe hat, sie würde sich aus der Neuproduktion von Tonträgern zurückziehen.

Die geplanten 150 CDs der Reihe "Musik in Deutschland" sind thematisch gebündelt. Das soeben gehörte Beispiel von Fidelio F. Finke stammt aus einer Sechserkassette aus der Abteilung "Musik für Orchester", Unterabteilung "Sinfonische Musik". Jede dieser sechs CDs ist einem Jahrzehnt gewidmet, die erste dokumentiert die unmittelbaren Nachkriegsjahre von 1945-1950, also sozusagen die musikalische "Vorgeschichte" der beiden deutschen Staaten, als sich das Land anschickte, aus Barbarei und Ruinen wieder den Weg zurück in die Zivilisation zu finden.

Und wie klang die zeitgenössische Musik damals in den deutschen Westzonen? Darüber gibt zum Beispiel die Sinfonie für großes Orchester von Wolfgang Fortner Auskunft, die 1947 in Baden-Baden uraufgeführt wurde. Auch hier eine unblässige Betriebsamkeit, wenn auch ein wenig zackiger, im Satz diskontinuierlicher und ohne den bemühten Optimismus Finkes. Im übrigen besitzt auch dieses Stück alle damaligen Anzeichen von musikalischer Rückständigkeit. Doch hatte  Wolfgang Fortner schnell geschaltet. Unüberhörbar sind einige Anklänge an Igor Strawinsky, der zwei Jahre zuvor in Deutschland noch als kosmopolitischer Jude gegolten hatte und nicht aufgeführt worden war.

Wolfgang Fortner: Sinfonie für großes Orchester (1. Satz)

Eine Tendenz zu dunklen Farben und eine insgesamt ehe problematische Grundhaltung heben dieses Stück deutlich ab von den auf der gleichen CD enthaltenen, gleichzeitig entstandenen Werken seiner ostdeutschen Kollegen, Fidelio F. Finke, Ottmar Gerster und Johannes Paul Thilman. Ihnen merkt man den verordneten Optimismus an, der spätestens seit dem "2. Internationalen Kongress fortschrittlicher Komponisten und Musikkritiker" in Prag 1948 zum Pflichtprogramm der Musiker in der Sowjetzone gehörte. Es waren die finsteren Jahre der stalinistischen Ästhetik, der sich alle Ostblockländer unterzuordnen hatten.

Wir im Westen sind jahrzehntelang gewohnt gewesen, diese Entwicklungen unter dem Vorzeichen des Kalten Kriegs als Ausdruck feindlicher Ideologie zu betrachten und entsprechend zu verabscheuen. Das war nicht unbedingt falsch, aber inkonsequent gedacht. Seit einem Jahrzehnt müssen wir nämlich nun lernen, daß unter diesem "feindlichen Denken" ein Drittel der deutschen Bevölkerung aufgewachsen und erzogen worden ist, und seit 1990 gehört dieses ideologische Erbe zur Geschichte des wiedervereinten Deutschland, die auch im Westen aufgearbeitet werden muß. Mit einem Nicht-zur-Kenntnis-nehmen dieser Traditionen ist es nicht getan.

Und hier kommen wir zu dem vielleicht größten Pluspunkt der CD-Reihe "Musik in Deutschland 1950-2000". Sie ist so angelegt, daß die getrennt verlaufenden musikalischen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten parallel und - im Rahmen des quantitativen Proporzes - gleichwertig dargestellt werden. Für die jetzt erschienene Sechserkassette mit Sinfonik aus fünfeinhalb Jahrzehnten bedeutet dies, daß neben Hans Werner Henze auch Günther Kochan steht, neben Paul Hindemith auch Paul Dessau, neben Isang Yun auch Ernst Hermann Meyer, neben Aribert Reimann auch Friedrich Goldmann. Für die an neuerer Musikgeschichte Interessierten gibt enorm viel zu entdecken, gerade was die im Westen kaum bekannten Werke aus der Frühzeit der DDR angeht. Wer wollte, konnte sich zwar entsprechende Informationen auf Langspielplatten des DDR-Labels Nova oder - in Berlin und entlang der Grenze - über die Sendungen von Radio DDR-2 besorgen. Viele werden es damals nicht gemacht haben. Umso wichtiger ist nun die Edition des Deutschen Musikrats, die in einem Zeitpunkt erscheint, da der Kalte Krieg zu Ende ist und die Wege und Irrwege der deutschen Nachkriegsmusik ohne ideologische Scheuklappen untersucht und überhaupt erst einmal kennengelernt werden können.

Hier noch einmal eine Gegenüberstellung zweier Stücke, die die Problematik des geteilten Landes und seiner Musik verdeutlicht: Ein Ausschnitt aus der 2. Sinfonie, der "Thüringischen", von Ottmar Gerster 1953 und anschließend ein Stück des fast gleichaltrigen Paul Hindemith. Die "Thüringische Sinfonie" von Ottmar Gerster gehörte laut Begleittext der CD in den fünfziger Jahren zu den "Greatest Hits" der DDR-Sinfonik.

Ottmar Gerster: 2. Sinfonie (Ausschnitt 1.Satz)

In seiner "Thüringischen Sinfonie aus dem Jahr 1953, dem Todesjahr Stalins, gelingt Ottmar Gerster das satztechnische Kunststück, das Thema der sowjetischen Hymne "Sang der Gesänge" bruchlos mit beethovenscher Pastoral-Bukolik zu verknüpfen. Hut ab, kann man da nur sagen, vor der handwerklichen Meisterschaft, mit der hier gemäß der Leitkultur des Sozialistischen Realismus weltanschauliche Verrenkungen praktiziert werden.

Auf der gleichen CD mit Sinfonik aus den fünfziger Jahren befindet sich auch ein Werk von Paul Hindemith, geboren 1895 und damit zwei Jahre älter als Gerster. Es ist der erste Satz der 1951, im Vorfeld seiner Kepler-Oper entstandenen Sinfonie "Die Harmonie der Welt". Wie Gerster arbeitet auch Hindemith mit markanten Themen, leicht fasslichen rhythmischen und harmonischen Gestalten. Doch klingt seine Musik einfach viel gekonnter. Ihr haftet nicht das Merkmal der Sklavensprache an, sie entfaltet sich ohne Rücksicht auf vorgeschriebene Programme und Methoden, ist darum viel weniger eindimensional und besitzt viel mehr Tiefenschichten. Das ändert nichts daran, daß zwischen Hindemith und Gerster, jenseits aller Ideologie, eine Gemeinsamkeit besteht: Beide schreiben zu Beginn der fünfziger Jahre eine Musik restaurativen Charakters, die musiksprachlich in die Vorkriegszeit zurückweist.

Paul Hindemith: Sinfonie "Die Harmonie der Welt" (Ausschnitt 1.Satz)

Unmittelbare Hörvergleiche sind immer eine spannende Erfahrung. Hier bei dieser CD-Reihe ermöglichen sie einen Querschnitt durch das Schaffen eines bestimmten historischen Moments. Man erfährt zum Beispiel anhand ein und derselben Platte, wie die Vertreter einer Komponistengeneration im Alter an gänzlich unterschiedlichen ästhetischen Orten landen können.

Zu den kompositorischen Urgesteinen, die den Kaiser, zwei Weltkriege, die Weimarer Republik und Hitler überlebt hatten, gehört neben Ottmar Gerster und Paul  Hindemith auch Paul Dessau, geboren 1894. Das von ihm ausgewählte Werk, "In memoriam Bertolt Brecht", ist für mich dasjenige, das von allen drei Komponisten am meisten überzeugt. In ihm äußert sich ein unvergleichliches Problembewußtsein im Umgang mit dem klingenden Material, das als zerfurchtes, gewaltsam in seine Form gezwungenes erscheint und gerade dadurch viel mehr über die subjektiv erlebte Epoche zum Ausdruck bringt als die sinfonische Schablone eines Gerster oder der altdeutsche Meistergestus eines Hindemith. Das Orchestertriptychon "In memoriam Bertolt Brecht" komponierte Paul Dessau 1958. Das thematische Material des zweiten Satzes, ein Marsch mit dem Titel "Der Krieg soll verflucht sein", stammt hörbar aus dem Lied der Mutter Courage. Für die Verarbeitung benutzte Dessau zwölftönige Verfahren.

Paul Dessau: In memoriam Bertolt Brecht (Marcia: "Der Krieg soll verflucht sein")

"Der Krieg soll verflucht sein", das tumultuöse zweite Stück aus dem Orchestertriptychon "In memoriam Bertolt Brecht" von Paul Dessau wurde 1958 mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung des Komponisten aufgenommen. Auch das war also möglich in der DDR der Ulbricht-Zeit, nicht nur die Erbauungssinfonik auf Bestellung. Aber Komponisten wie Paul Dessau oder Hanns Eisler waren in der DDR zu Lebzeiten bei allen Schwierigkeiten, die auch sie hatten, unantastbare Größen, die sich viel mehr herausnehmen konnten als andere; sie nutzten ihren Freiheitsspielraum auch, um dem kritischen Nachwuchs Wege zu ebnen und Türen in die Konzertsäle zu öffnen.

Von Dessaus Orchesterstück führt denn auch eine gerade Linie zu einer Komposition wie "Fanal Spanien 1936" von Friedrich Schenker aus den frühen achtziger Jahren. Schenker, der sich mehr als einmal auf Dessaus Fürsprache verlassen konnte, widmete das Stück posthum seinem Förderer. Er verarbeitete darin Themen alter Kampflieder nach Ives'scher Collagemanier und mit einem Gestus des anarchischen Protests. Den damaligen Kulturfunktionären muß das zweifellos schrill in den Ohren geklungen haben. Das Stück hätte auch für einen westlichen Konzertsaal hinreichend Skandalpotential gehabt. Schenkers "Fanal Spanien 1936" ist in einer andern Kassette der Dokumentation des Deutschen Musikrats erschienen, im Mitschnitt der Uraufführung von 1981 mit dem Rundfunksinfonieorchester Leipzig unter Wolf-Dieter Hauschild.

Friedrich Schenker: Fanal Spanien 1936 (Schluß)

Eine der Besonderheiten dieser Edition des Deutschen Musikrats ist es, daß zur Bestückung der geplanten 150 CDs vor allem auf Rundfunkbestände zurückgegriffen wird. Damit wird diese Reihe auch zu einem Dokument der herausragenden Rolle, die der Rundfunk als Musikproduzent in beiden deutschen Staaten in den Nachkriegsjahrzehnten gespielt hat. Ohne die ARD-Anstalten in der Bundesrepublik und das Zweite Programm, das Kulturprogramm, von Radio DDR würde die Geschichte der neuen Musik in Deutschland heute anders aussehen. Daran kann nicht eindringlich genug erinnert werden angesichts der sporadisch auftretenden Versuchungen, diesen gesetzlich verankerten kulturellen Auftrag aus finanziellen Gründen in Frage zu stellen.

Dem Editionsprojekt des Deutschen Musikrat gebührt das Verdienst, diese Eigenheit der deutschen Musikkultur, die weltweit einzigartig ist, wieder einmal ins öffentliche Bewußtsein gerückt zu haben. Und, was absolut neu ist:  Es geschieht in einer Weise, die die kulturellen Traditionen beider Teilstaaten gleichberechtigt nebeneinanderstellt und aus ihrer jeweiligen Geschichte heraus zu verstehen versucht. Dafür bürgen die Editionsleiter, zwei in Sachen neuer Musik kompetente Musikwissenschaftler: der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrende Schweizer Hermann Danuser und Frank Schneider, einer der profundesten Kenner der DDR-Musik.

Dank ihrer kompromißlos an der Sache orientierten Auswahlmethode werden auch musikalische Erscheinungen berücksichtigt, die aufgrund ihrer exponierten Machart auf dem CD-Markt bestenfalls eine Nischenexistenz führen können, wie zum Beispiel "Staub für Orchester" von Helmut Lachenmann. Die Uraufführung dieses Werks platzte 1986, weil sich das Orchester des Südwestfunks verweigerte. Ein Jahr später wurde sie in Saarbrücken dann nachgeholt. Die Saarbrücker Aufnahme mit dem Dirigenten Myung Whun Chung ist nun auf einer CD zusammen mit Werken von Schnebel, Trojan und Kochan veröffentlicht worden.

Helmut Lachenmann: Staub für Orchester (Ausschnitt)

Die wichtigsten Vorzüge der Editionsreihe "Musik in Deutschland 1950-2000" haben ich bereits gewürdigt, und es wird Zeit, auch ihre zweifellos vorhandenen Schwächen zu erwähnen. Es geht bei dem Großprojekt um eine halbwegs repräsentative Darstellung einer fünfzigjährigen musikalischen Entwicklung, die sich bekanntlich unter komplizierten historischen Bedingungen vollzog. Musikgeschichte als ein Stück Zeitgeschichte. Darauf weisen auch die Covers hin, die keine Komponistenköpfe zeigen, sondern, je nach Jahrzehnt, den halbmillionsten Volkswagen, die Berliner Mauer, eine Strassendemo oder die neue Berliner Reichstagskuppel.

Bei dieser historischen Konzeption stellt sich natürlich zuallererst die Frage der Darstellung. Um möglichst vielen Aspekten dieser Entwicklung gerecht zu werden, haben die Editionsleiter Danuser und Schneider ein ausgeklügeltes System von Kategorien und Unterkategorien geschaffen, das in Form einer mehrfarbigen Tabelle die Rückseite jedes Booklets schmückt. Sechs Hauptkapitel werden unterschieden: Konzertmusik, Elektronische Musik, Musiktheater, angewandte Musik, Jazz und Populäre Musik. Jedes von ihnen ist in bis zu sechs Unterkapitel unterteilt, die wiederum mit bis zu vier Kassetten abgedeckt werden.

Es handelt sich um eine Systematik, die vor allem für die Produzenten selbst von Bedeutung ist, den Käufer einer einzelnen Platte oder einer Kassette aber ziemlich kalt lassen dürfte. Dieser interessiert sich normalerweise für das einzelne Produkt und nicht für den Stellenwert dieses Produkts innerhalb eines verästelten Produktionsplans. Allenfalls der Einkäufer eines Archivs oder eines Hochschulinstituts könnte sich für eine solche bibliographische Systematik erwärmen. Dieses Detail verweist auf eine grundsätzliche Frage: An wen richtet sich die Edition mit ihren 150 CDs? Mir ist nicht ganz klar, ob dies nun das akademische Institut oder die öffentliche Dokumentationsstelle, das Schallarchiv im Rundfunk oder der fachlich eingeweihte Musikwissenschaftler sein soll. Oder vielleicht etwa der normale, an neuer Musik interessierte Plattenkonsument? Den gibt es ja bekanntlich auch.

Wahrscheinlich hat man an alle ein wenig gedacht. Doch von allen potentiellen Interessenten dürfte wohl am wenigsten der normale Plattenkonsument erreicht werden, obwohl er eigentlich derjenige wäre, der den CDs eine längere Überlebensdauer in den Verkaufsregalen sichern könnte.

Dieses Manko hängt nicht nur damit zusammen, daß sich der Aspekt der Systematik ungebührlich in den Vordergrund schiebt und dadurch auf den Käufer eher abschreckend wirkt. Es hängt auch mit einigen Besonderheiten der Detailgestaltung zusammen. Es beginnt schon damit, daß jede CD, entsprechend dem Dokumentationscharakter des Unternehmens, die unterschiedlichsten Komponisten und Stile unter einem relativ abstrakten Oberthema zusammenfaßt. Und Themen verkaufen sich bekanntlich schlecht. Dies gilt auch für die Sparte Neue Musik. Der Plattenkonsument kauft vorwiegend nach Komponisten- oder Interpretennamen, und erst in dritter oder vierter Linie richtet er sich nach Programmideen.

Ein weiteres Merkmal kommt dazu, das den Konsumgewohnheiten fundamental widerspricht. Die meisten Platten enthalten keine vollständigen Werke, sondern nur einzelne Sätze oder sogar ausgeblendete Werkbestandteile. Der Grund: Es geht nicht um das Werk als solches, sondern um das Werk als Beleg für das jeweilige CD-Thema. Das ist die Crux der historischen Sehweise, die notwendigerweise mit der werkbezogenen ästhetischen kollidiert. Außerdem sollten vermutlich aus Gründen der historischen Gerechtigkeit möglichst viele Komponisten berücksichtigt werden; Reklamationen, kämen sie nun von einzelnen Komponisten, von Berufsverbänden, Verlegem oder andern Interessengruppen, möchte der Deutsche Musikrat als Dachorganisation wohl tunlichst vermeiden. So erfolgt die Zusammenstellung der Stücke auf einer Platte manchmal nach dem Prinzip der guten alten Wortmusiksendung im Rundfunk, wo die Musikstücke der Illustration eines klugen Lesetexts dienen und angesagt werden nach dem Muster: "Hören Sie nun als nächstes einen Ausschnitt aus ..." etc.

Doch was im Medium Rundfunk durchaus seinen Sinn haben kann, macht sich auf einem käuflichen Tonträger schlecht. Die Hörgewohnheiten sind hier anders, außer man kauft die CD zu Bildungs- und Unterrichtszwecken und will sich in erster Linie belehren lassen. Wer das sucht, kommt immerhin auf seine Kosten, so zum Beispiel bei den grundsätzlichen Erwägungen über den Bedeutungswandel der Gattung Sinfonik, die Winrich Hopp im Zusammenhang mit der Musik der sechziger Jahre anstellt - ein Bedeutungswandel, der von den Sinfonieorchestern bis heute nicht richtig erkannt, geschweige denn akzeptiert worden ist. Er zeigt sich etwa im Orchesterstück "Akroasis" von Johannes Fritsch, uraufgeführt 1971 im Kölner Rundfunk. Zum Orchester treten hier unter anderem zwei Singstimmen, Live-Elektronik, eine Jazzband, Drehorgel, ein Musicbox und ein Nachrichtensprecher.

Johannes Fritsch: Akroasis (Ausschnitt)

Die Booklets der  Edition "Musik in Deutschland 1950-2000" enthalten jeweils einen Einführungstext zum Thema der CD in Form eines wissenschaftlichen Essays, gefolgt von der Präsentation der einzelnen Werke. Das Niveau der Texte zur Sechserkassette mit Sinfonik ist hoch, wenn auch durchaus unterschiedlich, was die Bewertung des jeweiligen Gegenstands angeht. Doch das lässt sich nicht vermeiden. Der Autor der Booklets über Musik der siebziger und achtziger Jahre, Klaus Kleinschmidt, macht zum Beispiel kein Hehl aus seiner Skepsis gegenüber den Vertretern jener Ästhetik, die nach 1970 mit Etiketts wie Neue Einfachheit oder Neotonalität versehen wurde. Andererseits wird allgemein auch die strukturorientierte Avantgarde Darmstädter Provenienz nicht als sakrosankt behandelt. Ihr unreflektierter Fortschrittsbegriff und ihre selbstgenügsame Gesellschaftsferne werden ebenso kritisch unter die Lupe genommen wie ihr Gegenpol, die verordnete Funktionalität vieler DDR-Auftragswerke.

Die Darmstädter Avantgarde ist übrigens in der Sechserkassette "Sinfonische Musik" ausgeklammert. Das trägt wohl der kritischen Distanz Rechnung, die ihre Protagonisten gegenüber dem Genre Sinfonik an den Tag gelegt haben. Selbstverständlich haben sie viele Orchesterwerke geschrieben, aber die hießen eben nicht "Sinfonie", sondern "Gruppen für 3 Orchester", "Composizione Nr. 2" oder "Segmente für Orchester". Diese Produktionen werden wohl in einer andern Kassette mit Orchestermusik berücksichtigt werden. Die in jedem Booklet abgebildete bunte Tabelle des Produktionsplans birgt zweifellos noch viele Überraschungen. Darin ähnelt sie einem Adventskalender mit vielen neugierig stimmenden Fensterchen und Türchen.

Die Systematik wird jedoch im konkreten Fall immer wieder durchlöchert. Was ist noch Sinfonik? Wo sind die Gattungsgrenzen anzusiedeln? Lebendige Kunst läßt sich bekanntlich nicht in musikwissenschaftliche Schubladen pressen. Und Grenzfälle gibt es zuhauf. So etwa Fritschs "Akroasis" oder Lachenmanns "Staub für Orchester". Weniger vielleicht Dieter Schnebels "Sinfonie-Stücke für großes Orchester" von 1984/85, die den Begriff Sinfonie immerhin im Titel führen, als radikale Schrumpfform einer möglichen fünfsätzigen Großarchitektur aber nur gerade 10 Minuten und ein paar Sekunden dauern. Die Aufnahme mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Christoph Eschenbach entstand 1986 in der Berliner Philharmonie.

Dieter Schnebel:  Sinfonie-Stücke

Dieter Schnebels "Sinfonie-Stücke für großes Orchester" von 1984/85 bildeten eine Fortsetzung der avantgardistischen Linie der Musik der fünfziger und sechziger Jahre, angereichert allerdings durch die neuen Perspektiven auf die sinfonische Tradition, die Schnebel selbst damals entscheidend mitgeprägt hatte. Auf der gleichen CD, die der Orchestermusik der achtziger Jahre gewidmet ist, befindet sich die Sinfonie Nr.3 von Manfred Trojahn. Der 1949 geborene Trojahn gehört zu den damals jungen Komponisten, die den Rückgriff auf die sinfonische Tradition der Jahrhundertwende direkt, ohne den Umweg über den Avantgardismus, vollzogen. Entsprechend wenig reflexionsbelastet und äußerlich geglätteter klingt denn auch seine Musik. Der Hörer kann darin die vertrauten Sprachmuster wiedererkennen, die er schon aus der älteren Musik kennt: Anspielungen an die Klangfarbenmelodie aus Schönbergs op.16, wohlklingende Streicherakkorde und Englischhornsoli. Es ist der ungebrochene Musiziergestus dessen, was damals unter dem Etikett "Postmoderne" Furore machte und heute auch schon wieder historisch ist.

Manfred Trojahn: Sinfonie Nr. 3 (Satz 1 und 2)

"Man komponiert wieder Sinfonien", hieß in den achtziger Jahren in der Bundesrepublik eine Losung, den neuesten Trend betreffend, und Manfred Trojahns Sinfonie Nr. 3 erfüllte die damit verbundenen Erwartungen auf erfolgversprechende Weise. In der DDR, wo man sich unter dem Siegel des Sozialistischen Realismus schon immer auf die formalen Traditionen der großen bürgerlichen Musik berufen hatte, war das damals überhaupt nichts Neues. Neue Anstöße in der Königsgattung Sinfonie hatte es aber bereits zehn Jahre zuvor gegeben, nämlich durch die erste Sinfonie von Friedrich Goldmann. Darin verband der 1941 bei Karl-Marx-Stadt geborene Ostberliner die tradierte sinfonische Form mit seriellen Verfahrensweisen. Inzwischen waren nämlich in der DDR die rigiden ästhetischen Vorschriften zumindest in der Musik gelockert worden. Goldmann, der schon als Achtzehnjähriger die Darmstädter Ferienkurse besuchen durfte, gehörte zu denen, die den ästhetischen Spielraum nutzten, um neue Wege auszuprobieren. Die Aufnahme seiner Sinfonie mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Michael Tabachnik stammt aus dem denkwürdigen Konzert vom 28. April 1976 im SFB, als einige DDR-Komponisten, darunter Goldmann, erstmals nach Westberlin reisen durften, um dort der Aufführung ihrer Stücke beizuwohnen.

Friedrich Goldmann: 1. Sinfonie (1.Satz)

Friedrich Goldmann komponierte seine 1. Sinfonie 1973, und die vorliegende Aufnahme entstand 1976 im Sender Freies Berlin, also in Westberlin. Ein historisches Datum, was die kulturelle Annäherung von Ost und West betrifft. Auf musikalischem Gebiet kam dieser langwierige Annäherungsprozeß, der in andern Bereichen noch lange auf sich warten ließ, damals schon in Gang.

Es gehört zum diskreten Charme der Edition "Musik in Deutschland 1950-2000", solche historischen Ereignisse zwar zu dokumentieren, aber nicht explizit darauf hinzuweisen. Zu häufig werden in den Kommentaren nach guter alter Musikologenart musikimmanente Aspekte wie Materialbehandlung, Gattungstradition und Formprobleme ins Zentrum gerückt. Wo es doch es in einer Edition, die mit dem Anspruch einer historischen Dokumentation auftritt,  vor allem auch darum ginge, die besonderen musikpolitischen Zusammenhänge darzustellen, die sich im komplizierten Ost-West-Gefüge zur Zeit des Kalten Kriegs ergaben. Doch das kann sich ja noch einpegeln im Lauf der langfristig angelegten Edition.

Wir beschließen diese Sendung über die Sechserkassette mit sinfonischer Musik mit dem Werk eines Komponisten, der sich von dieser Gattung zeitliebens nie abgewandt hat und in der Anzahl seiner Sinfonien schon vor vier Jahren die legendäre Zahl neun erreicht hat: Hans Werner Henze. Inzwischen arbeitet er an seiner Zehnten. Henze gehört, wie sein jüngerer Kollege Wolfgang Rihm, zu jenen Komponisten, die aufgrund ihres breitgestreuten und im Musikleben gut verankerten Oeuvres in der Edition des Deutschen Musikrats häufiger vorkommen. So taucht er in den sechs CDs, die das Thema Sinfonik dokumentieren, gleich dreimal auf: Mit seiner ersten Sinfonie von 1947, seiner sechsten von 1969 und seiner neunten von 1996. In den letzter beiden Fällen geschieht dies verständlicher-, aber auch bedauerlicherweise nur in Form der erwähnten Häppchenpraxis mit Werkausschnitten. Hier Teil VII mit dem Titel "Die Rettung" aus Hans Werner Henzes 9. Sinfonie für Chor und Orchester über Texte, die auf Anna Seghers Kriegsroman "Das siebte Kreuz" beruhen. Es handelt sich um eine Auskopplung der bei EMI 1998 erschienenen Aufnahme des Werks unter der Leitung von Ingo Metzmacher.

Hans Werner Henze: Sinfonie Nr. 9 (Teil VII, Die Rettung)

© 2000, Max Nyffeler

Bei demText handelt es sich um eine leicht veränderte Version eines Sendemanuskripts für den Bayerischen Rundfunk (Sendung "Prisma", Bayern 4, vom 2.12.2000)

"Sinfonische Musik", Kassette mit 6 CDs (BMG Ariola 74321 73657 2), erschienen in der Reihe "Musik in Deutschland 1950-2000", herausgegeben vom Deutschen Musikrat unter der Leitung von Hermann Danuser und Frank Schneider. Die ganze Reihe ist auf 150 CDs geplant.

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