Streichquartette von Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno

Das Kuss Quartett mit einer Neuveröffentlichung beim Label "Primavera"

Das Streichquartett Nr. 1 in d-moll op. 7 von Arnold Schönberg und die Zwei Stücke für Streichquartett op. 2 von Theodor W. Adorno entstanden in zwei für die Musik der Wiener Schule entscheidenden Phasen. Schönbergs Quartett von 1905 bildet mit der ersten Kammersinfonie und dem zweiten Quartett eine Trias, von der Anton Webern sagte, in ihnen habe Schönberg – nach den frei fantasierenden Formen, die 1903 in der sinfonischen Dichtung Pelleas und Melisande ihren Endpunkt fanden – eine neue, auf das Quartett und die Sinfonie der Klassiker zurückgreifende Form geschaffen. Adornos Stücke entstanden zwanzig Jahre später in unmittelbarer zeitlicher Umgebung zu den ersten Zwölftonkompositionen Schönbergs.

Beides sind somit Werke des Übergangs. Im Falle von Schönberg, einem der großen schöpferischen Geister in der Musik des 20. Jahrhunderts, eröffnete das weit reichende Perspektiven. Adornos Herantasten an die Dodekaphonie hingegen besitzt eher reaktive Züge; es scheint, als ob der komponierende Philosoph und Musiktheoretiker, der der Zwölfordnung der Töne skeptisch gegenüber stand, testen wollte, in wie weit die neue Methode seinen eigenen schöpferischen Impulsen dienstbar gemacht werden könnte.

Arnold Schönberg: Streichquartett d-moll op. 7

In Schönbergs d-moll-Quartett ist zum ersten Mal und noch auf tonaler Basis ausgebildet, was zwei Jahrzehnte später in der Dodekaphonie zu einem Hauptaspekt des Komponierens werden sollte: Die enge motivisch-thematische Verwandtschaft aller kompositorischen Elemente. Anton Webern hat das mit subtilen Worten beschrieben:

"Wunderbar ist, wie Schönberg aus einem Motivteilchen eine Begleitfigur bildet, wie er die Themen einführt, wie er die Verbindungen der einzelnen Hauptteile gestaltet. Und alles ist thematisch! Es gibt sozusagen keine einzige Note in diesem Werke, die nicht thematisch wird. Diese Tatsache ist beispiellos. Am ehesten besteht da noch ein Zusammenhang mit Johannes Brahms."

Die thematische Arbeit bildet in diesem Werk die notwendige Gegenkraft zu den zentrifugalen Tendenzen, die von der riesigen, quasi-sinfonischen Form und der Vielfalt an Gestalten und Verfahrensweisen ausgehen, zumal die an ihre Grenzen geführte Tonalität die Integration des Werkganzen nur noch ansatzweise zu leisten vermag.

In seinem fundamentalen Aufsatz Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?, erschienen zu Schönbergs 50. Geburtstag 1924, nennt Alban Berg als Grund für die Schwierigkeit des Verstehens genau diese

"Fülle der (...) zur Anwendung gelangten Kunstmittel, die Heranziehung aller, durch die Musik von Jahrhunderten gegebenen kompositorischen Möglichkeiten, mit einem Wort: ihr unermesslicher Reichtum."

Berg demonstriert das anhand des Beginns des d-moll-Quartetts. Er analysiert die Asymmetrie der Periodenbildung und zeigt, wie sich in Violine 1, Viola und Cello fünf-, zwei- und dreitaktige Phrasen überlagern, er erläutert, wie die Stimmen des ersten Themenkomplexes im Verhältnis des doppelten Kontrapunkts angelegt sind und bei jedem neuen Auftreten melodisch variiert werden, und er entdeckt hinter der komplex ausgearbeiteten Harmonik das Gerüst eines vierstimmigen Satzes in d-moll.

Die einsätzig angelegte monumentale Großform, in deren Zentrum eine große Durchführung steht, vereint vier Einzelsätze: einen Sonatenhauptsatz, ein Scherzo mit Trio, ein Adagio und ein Schlussrondo. Sie bilden aber nicht ein schlichtes Nacheinander, sondern sind durch Reprisen und thematische Bezüge kunstvoll miteinander verklammert. Nicht nur in diesem formalen Verfahren, sondern auch in manchen idiomatischen Eigenheiten zeigt das Quartett eine Verwandtschaft mit der ein Jahr später entstandenen ersten Kammersinfonie.

Theodor W. Adorno: Zwei Stücke für Streichquartett op. 2

Theodor W. Adorno war lange ausschließlich als Kulturphilosoph, Soziologe und Musiktheoretiker bekannt. Dass er bei Alban Berg studiert und respektable Zeugnisse seines künstlerischen Talents vorgelegt hatte, interessierte kaum. Dieses Bild änderte sich erst 1989, als die Zeitschrift Musikkonzepte den Komponisten Adorno ins Blickfeld rückte und parallel dazu die zweibändige Ausgabe seiner musikalischen Werke erschien, ediert von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Die von Adorno zur Veröffentlichung frei gegebenen Werke, insgesamt zwölf, entstanden zwischen 1923 und 1945. Dazu gehören acht Klavierlieder-Zyklen, drei Orchesterwerke, eine Chorkomposition sowie – als einziges Kammermusikwerk – die Zwei Stücke für Streichquartett op. 2.

Die beiden Stücke schrieb Adorno während seiner Studienzeit bei Berg in Wien; das erste, eine Mischung von Sonatensatz und Rondoform, entstand 1926, das zweite, ein Variationensatz, bereits 1925. Die Reihentechnik kommt darin in durchaus eigenwilliger Weise zur Anwendung. Die deklamatorisch ausholende Geigenmelodie, mit der das erste Stück einsetzt, besteht aus einer Zwölftonreihe, die einmal wiederholt wird. Im weiteren Verlauf gehorcht der Satz, wie Walter Levin in seiner Analyse im erwähnten Band der Musikkonzepte nachweist, aber keineswegs den Regeln der Dodekaphonie. Das zweite Stück – es besteht aus einem Thema von psalmodierendem Charakter, zwölf konzisen Variationen und einer Coda und ist durch die Tempogestaltung in der Grossform nach dem Schema A-B-A' gegliedert – wartet gleich in der Exposition des Themas mit Tonwiederholungen auf, die dem Reihenprinzip widersprechen; im zweiten Teil des Themas erscheint eine nur durch eine Oktavversetzung verunklarte, genuine d-moll-Tonleiter; die Reihe kommt nur in ihren vier Grundformen vor, auf Transpositionen wird vollständig verzichtet.

In den beiden Stücken erweist sich Adorno als künstlerisch ernst zu nehmendes Mitglied der Wiener Schule. Im Spannungsfeld zwischen der seit 1923 von Schönberg praktizierten Reihentechnik und der freien Atonalität in den vierzehn Jahren davor entscheidet er sich für die neue Technik, ohne jedoch das Ideal einer ungebundenen Musik ganz aufzugeben. Für Schönberg war die Zwölftönigkeit eine künstlerische Selbstverständlichkeit, um die er nicht viel Worte machte; Adorno, dem Theoretiker, erschien sie als suspekte Ordnungsidee. In diesem Zwiespalt manifestiert sich etwas von der widersprüchlichen Beziehung Adornos zu seinem Vorbild Schönberg.

© 2003, Max Nyffeler

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