Miniaturen, Visionen, Gratwanderungen

Neue CDs mit Werken von Stroppa, Saariaho, Brass, Hölszky, Terzakis und Boulez

Miniature estrose nennt der 46-jährige, in Stuttgart lehrende Italiener Marco Stroppa seine Sammlung von sieben Klavierstücken, komponiert zwischen 1988 und 1995. Die Bezeichnung "Miniaturen" ist glattes Understatement für dieses Feuerwerk an pianistischer Fantasie mit seinen glitzernden Klangflächen, explodierenden Akkordbüscheln und subtilen Hallwirkungen. In Florian Hoelscher, der den ganzen Zyklus erstmals 2002 in Köln aufführte, findet die Musik einen kongenialen Interpreten. Er bringt die Details zum Funkeln und öffnet zugleich den Blick auf eine Klanglandschaft von außergewöhnlicher Weite und Vielfalt. (Stradivarius STR 33713)

Drei im Charakter sehr unterschiedliche Streichquartette hat das norwegische Cikada String Quartet eingespielt. Das jüngste von 1987 ist Nymphéa von Kaija Saariaho, ein poetisch verschlungenes, farblich delikates Liniengeflecht, das durch diskrete Live-Elektronik einen zusätzlichen Schimmer erhält. Das älteste schrieb 1950 John Cage, dem hier eine eigentümliche Mischung von ausgetüftelter Konstruktion und pseudotonaler Harmonik gelang. Dazwischen das expressiv aufgeladene, serielle Werk Bruno Madernas von 1955 – drei ästhetische Positionen und drei Möglichkeiten, der alten Gattung Streichquartett neue Facetten abzugewinnen. (ECM 472 4222)

Zu den Stillen im Lande gehört der in der Nähe von München lebende Nikolaus Brass. Void, a due und Trio lauten die lapidaren Titel der drei Kammermusikwerke, in denen er mit wenigen, aber komplex verschachtelten Elementen die Sensation des Leisen heraufbeschwört. Es sind verschwiegene und zugleich höchst beredte Klänge, deren Suggestivkraft man sich nicht entziehen kann. Zum Hören ist allerdings absolute Stille geboten. (col legno WWE 1CD 20235)

Von faszinierender Konkretheit ist der Surround-Klang auf der SACD-Produktion mit Werken von Adriana Hölszky. Karawane für zwölf Schlagzeuger und das Gespensterstück Vampirabile, ein Vokalklassiker der achtziger Jahre, rücken dem Hörer auf fast beängstigende Weise nahe, Klaviatur der Mythen für sechs Schlagzeuger und Streichorchester beeindruckt durch Leichtigkeit und Transparenz des Klangs. Die Drastik von Adriana Hölszkys Musik wird durch die Surround-Technik ins Grelle überhöht. (Neuklang NCD 4007, auch Stereo abspielbar)

Die Kompositionen von Dimitri Terzakis wurzeln in der musikalischen Tradition seiner griechischen Heimat und der alten byzantinischen Musik, was sich in einer mikrotonal verfeinerten Linearität und einem archaisch Grundzug niederschlägt. Auf einer Porträt-CD mit Instrumental- und Vokalwerken kommt das besonders eindrucksvoll zur Geltung in der Liturgia profana nach dem Hohen Lied Salomos, wo sich Gesang und Instrumente zu einem schwerblütig-intensiven Ritual vereinigen. (cpo 777 044-2)

Die Notations von Pierre Boulez kreisen in jüngster Zeit nur in der unabgeschlossenen Orchesterversion um den Planeten. Der Erfindungsreichtum der originalen zwölf Klavierstücke von 1945 offenbart sich in der bravourösen Einspielung von Pi-Hsien Chen. Die in Köln lebende Pianistin stellt dem Frühwerk auch gleich noch alle drei Klaviersonaten von Boulez zur Seite. Damit erweist sie sich einmal mehr als absolut schwindelfrei bei ihrer Gratwanderung auf den Höhenzügen der Fünfzigerjahre-Avantgarde. (Hat Hut Records, Hat Art 162)

© Max Nyffeler

(Dezember/2005)

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