Wanderer in Innenwelten

Im Westen wieder zu entdecken: Die Orchesterwerke von Mieczyslaw Karlowicz (1876-1909)

Die Berge inspirierten ihn zu seinen besten Werken, und in den Bergen fand er den Tod: Mit nur dreiunddreißig Jahren wurde er bei eine Wanderung in der Tatra von einer Lawine verschüttet. Der 1876 in Litauen geborene polnische Komponist Mieczyslaw Karlowicz schuf in seinem kurzen Leben ein kleines, aber bemerkenswertes Œuvre, das zwar in Polen zum festen Bestand der nationalen Musiktradition gehört, doch jenseits der Grenzen kaum bekannt ist. Die am Übergang von der Spätromantik zur beginnenden Moderne angesiedelten Orchesterwerke sind eine Entdeckung wert. Ein verhalten-introvertierter Tonfall, landschaftliche Anklänge und programmusikalische Dramatik werden darin zu großen sinfonischen Gesten verschmolzen.

Karlowicz hatte alle Voraussetzungen zum erfolgreichen Komponisten. Aufgewachsen in einer kunstinteressierten Familie, verbrachte er seine Jugend in Heidelberg, Prag, Dresden und Warschau. Er lernte Violine und ging mit neunzehn Jahren nach Berlin, wo er Komposition, Natur- und Geisteswissenschaften studierte. Hier entstanden auch seine ersten Orchesterwerke. Sie sind im Stil des sinfonischen Mainstreams des ausklingenden Jahrhunderts gehalten und handwerklich gediegen gearbeitet: eine Streicherserenade, ein ausdrucksstarkes Violinkonzert und die Sinfonie in e-Moll mit dem Beinamen „Wiedergeburt“.Mieczyslaw Karlowicz

Die viersätzige Sinfonie, eingespielt vom Philharmonischen Orchester Warschau beim polnischen Label Dux, hat von allen drei Frühwerken die persönlichste Färbung. Hier kündigt sich schon an, was einige Jahre später die Sinfonischen Dichtungen von Karlowicz auszeichnen sollte: geheimnisvoll abgedunkelte Bläser- und Streichermixturen, befreiende Aufschwünge und helle Klanghorizonte, plötzliche Gesten des Verzichts und der inneren Einkehr. Noch endet jedoch diese Sinfonie mit der strahlenden Apotheose einer Choralmelodie; der schlank gehaltene Klang und die straffen Tempi bewahren sie vor dem Abgleiten in falsches Pathos. Das gleiche Orchester hat auch die Serenade und das Violinkonzert eingespielt. Dirigent dieser bei Naxos erschienenen Aufnahme ist Antoni Wit, der Geiger Ilya Kaler zeichnet die brillanten Allegropartien und die kantablen Lyrismen des langsamen Satzes mit großem Schwung nach.

In Warschau, wohin er 1902 zurückkehrte, hatte Karlowicz mit diesen Werken seltsamerweise keinen Erfolg. Enttäuscht zog er sich nach Zakopane am Fuß der Hohen Tatra zurück, wo er bis zu seinem Tod 1909 Bergwanderungen machte, fotografierte und komponierte. Die Tatra-Landschaft diente damals als eine Art Refugium für die verletzten nationalen Gefühle, die polnischen Künstler des Fin de Siècle machten aus ihr ein mystisch verklärtes Symbol des Widerstands gegen die Fremdherrschaft. Hier ließen sich die modernen Literaten des „Jungen Polen“ nieder, hierhin zog es auch die gleichnamige Gruppe junger Komponisten, die sich 1905 in Berlin gegründet hatte und deren namhaftester Vertreter Karol Szymanowski war. Der Einzelgänger Karlowicz war eines ihrer Vorbilder.

In dieser Umgebung entstanden die acht Sinfonischen Dichtungen, seine bedeutendste Werkgruppe. Auch wenn das Vorbild Strauss durchschimmert: Sie sind kein polnisches Pendant zu den realistischen Naturschilderungen der „Alpensinfonie“, sondern Ausdruck eines sensiblen künstlerischen Ichs, das sich seine Welt aus dem Inneren erschafft und zu großen Visionen fähig ist. Den Vorwurf des Eklektizismus den er bei den früheren Werken hören musste, schüttelt Karlowicz hier ab. „Wiederkehrende Wellen“ ist eine klanggewordene Reflexion über menschliche Existenz und Unendlichkeit, „Traurige Erzählung“ folgt einer bewegten Klangdramaturgie von Licht und Schatten, „Stanislaw und Anna von Oswiecim“ erzählt von einer unglücklichen Geschwisterliebe.

Neue musikalische Zeitdimensionen eröffnet die endlos in sich kreisende, melancholische Dreitonmelodie der „Litauischen Rhapsodie“ – ein reduktives Modell, das siebzig Jahre später Henryk Mikolaj Górecki in seiner Dritten Sinfonie wieder aufgreifen sollte. Den Schwerpunkt der Sinfonischen Dichtungen bildet jedoch das Triptychon „Ewige Gesänge“, das um Liebe und Tod, Sehnsucht und Ewigkeit kreist. Hier sind die Themen der symbolistischen Weltsicht, die Karlowicz in seinem Werk zum Klingen brachte, zu einem großen sinfonischen Tableau vereinigt. Es ist eine Musik, die viel zu erzählen hat und dabei nie überwältigt.

Mieczyslaw Karlowicz: Sinfonische Dichtungen. Schlesisches Philharmonisches Orchester, Ltg. Jerzy Salwarowski. Dux (Vertrieb: Klassik Center) 0132/0133 (2 CDs).
Sinfonie e-Moll, „Wiedergeburt“. Philharmonisches Orchester Warschau, Ltg. Jerzy Salwarowski. Dux 0656 (1 CD).
Serenade für Streicher, Violinkonzert A-Dur. Ilya Kaler, Violine, Philharmonisches Orchester Warschau, Ltg. Antoni Wit. Naxos 8.572274 (1 CD).

© Max Nyffeler

Eine Printfassung dieses Artikels ist in der FAZ vom 2.4.2011 erschienen.

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