Das CD-Label ECM und sein Gründer Manfred Eicher35 Jahre Entdeckungen im Spannungsfeld von Jazz, Klassik und neuer Musik
Wie wird man Schallplattenproduzent? Heute, da Studios dicht gemacht, Produktionsvorhaben gestrichen und in den Chefetagen der Multis die Superstar-Entdecker und Hoffnungsträger von gestern gleich reihenweise gefeuert werden, mag die Frage leicht frivol klingen. Doch überflüssig ist sie keineswegs, werden hinter der Person und ihren Motiven doch immer auch die inhaltlichen Ideen sichtbar. Bei den Großen verschwinden diese Ideen meist hinter abstrakten Marketing-Überlegungen. Bei den kleinen und mittleren Labels hingegen, die immer Personenfirmen sind, sind sie für die Identität des Unternehmens wesentlich und bestimmen über seinen Erfolg und Misserfolg. Bei Manfred Eicher begann alles mit den 16.000 Mark, die ihm ein Münchner Elektrohändler 1969 als Risikokapital vorstreckte. Damit produzierte er seine ersten vier LPs mit Musik von Keith Jarrett, Chick Corea und Musikern des Miles Davis Quintetts. Er hatte in Berlin Musik studiert und in den sechziger Jahren als Kontrabassist in verschiedenen Jazz-Formationen gespielt. Bei Aufnahmen sagte er sich jedes Mal: Das würde ich aber besser machen. Der Wille, es anders und besser zu machen, war der Ansporn für die Gründung seines Labels ECM. Bis heute produziert er, zusammen mit ein oder zwei Tonleuten, die Aufnahmen selbst und ist im Studio stets dabei. Den flüchtigen Moment einfangenDie enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Musikern, ob beim Jazz, bei neuer Musik oder Klassik, ist für Eicher entscheidend. Sie bildet vielleicht das wesentliche Geheimnis für den andauernden Erfolg der 35 Jahre alten Münchner Firma. "Man muss spüren, welche Leute zusammenpassen und wohin sich die Dinge entwickeln", sagt er. "Trotz guter Vorbereitung entscheidet sich alles in der konkreten Situation." Während der drei bis vier Tage Aufnahmezeit kommt der richtige Moment manchmal unverhofft in einer Nachtsitzung. Dann plötzlich "ereignet sich die Musik", dann fühlen alle: Diese Fassung nehmen wir. Eicher ist ein Produzent, der sich stark durch die Intuition leiten lässt. Dabei kommen ihm seine praktischen Erfahrungen aus der improvisierten Musik zugute. Wie alle Faktoren bis hin zu den scheinbaren Nebensächlichkeiten der Raumtemperatur und des Lichts in einer konkreten Situation zusammenwirken, ist letztlich entscheidend für die Qualität einer Aufnahme. Diese Mischung teilt sich auch durch das Medium mit, und im Fall des Gelingens wird etwas vom kreativen Augenblick hörbar, wenn man zu Hause die CD auflegt. Produzieren erweist sich somit als künstlerische Tätigkeit wie die des Interpreten am Klavier oder am Cello. Akustische Erscheinung des Werks als KlangskulpturZum eingefangenen Augenblick gehört auch die spezifische Akustik. Eichers Produktionen sind in der Regel sehr räumlich konzipiert ein Klangbild, das oft als "ECM-Sound" apostrophiert wird. So pauschal will er das aber nicht gelten lassen. Die akustische Gestalt ist für ihn eine Klangskulptur, die sich letztlich aus der aufgenommenen Musik selbst ergibt und erst während der Aufnahme entsteht. Er arbeitet viel mit Raummikrofonen und stellt den Klang nicht hinterher bei der Abmischung, sondern schon während der Aufnahme her. Wichtig ist für ihn, dass auch im Klangbild etwas von der Persönlichkeit des Komponisten oder Interpreten zum Vorschein kommt. Er sucht nach Alternativen zur heute gängigen Aufnahmeästhetik, die zwar immer perfekter, aber auch farbloser, unpersönlicher geworden ist. Gleiches gilt für die optische Erscheinung. An Stelle marktkonformer bunter Bilder eine Reduktion auf Schwarzweiss, allerdings mit einer sehr differenzierten Abstufung in Grautönen. Die sorgfältig gestalteten, monochromen Schuber und Booklets mit ihren lebendigen Fotostrecken und der kleinen Groteskschrift sind im Lauf der Jahre zu einem Markenzeichen geworden. Die CD tendiert zum kleinen, individuell hergerichteten Gesamtkunstwerk mit unverwechselbarer akustischer, optischer und haptischer Anmutung. Komplette BacklistSeit der Gründung hat ECM rund neunhundert Platten produziert. Alle sind bis heute lieferbar, auch die alten LPs, sofern sie nicht digitalisiert worden sind. Das gesamte Schaffen eines Künstlers soll stets abrufbereit sein. Im Jazzbereich, der noch immer den Hauptteil der Produktion ausmacht, enthält der Katalog allein 44 Titel von Keith Jarrett. Darunter befindet sich das legendäre Köln Concert von 1975, das sich bisher über drei Millionen Mal verkauft hat und einen Grundstein der ECM-Erfolgsgeschichte bildet. Echte Dauerbrenner gibt es auch unter den 23 Platten des Saxophonisten Jan Garbarek, der ebenfalls von Anfang an dabei war und es bis heute geblieben ist. "Officium", sein Joint Venture mit dem Hilliard Ensemble, erreichte eine Auflage von weit über einer Million. Die langjährige Zusammenarbeit mit Künstlern ist charakteristisch für Eichers Arbeitsweise. Alles passiert auf der persönlichen Vertrauensbasis. Wo die Majors pompöse Unterschriftenzeremonien während der Salzburger Festspiele inszenieren, genügt ihm die gemeinsame Erfahrung in der Arbeit. Sie macht schriftliche Abmachungen überflüssig. Das kooperative, gleichsam kammermusikalische Denken ist auch ein Nährboden für neue Projekte. Oft bringt Eicher Künstler zusammen, die bisher nie miteinander gespielt haben. So etwa Gidon Kremer und Keith Jarrett bei "Tabula Rasa" von Arvo Pärt. Navigieren in der MusikgeschichteDiese Platte legte 1984 den Grundstein für die "New Series", die zweite große ECM-Programmlinie neben dem Jazz, in der vor allem neue Musik produziert wird. Das Spektrum ist jedoch viel weiter und reicht von Perotin über Gesualdo, Bach und Mozart bis zu Heiner Goebbels, Heinz Holliger und Helmut Lachenmann. Auch im Repertoire folgt Eicher nicht vorgefassten Konzepten, sondern vielmehr seiner Intuition und oft auch den Anregungen seiner Musiker. Seine Programmpolitik, wenn es sie denn gibt, gleicht eher dem einst von Luigi Nono so bildhaft beschriebenen Navigieren in einem Archipel von Möglichkeiten als einer linearen Planung, die zwangsläufig vieles ausschliesst. Der Horizont bleibt offen, auch für Dinge ohne Aussicht auf schnellen Erfolg. Pärt ist eine weitere Erfolgsgeschichte von ECM und charakteristisch für die New Series. Der Ton dieser Musik, von dessen Aufrichtigkeit Eicher absolut überzeugt ist, stösst zwar in den Kreisen der neuen Musik nicht immer auf Gegenliebe, dafür aber umso mehr bei jenem wachsenden Publikumssegment, das zwar nicht unbedingt Fachkenntnisse hat, aber hohe Ansprüche an die Hörkultur stellt und offen ist für neue musikalische Erfahrungen. Hier findet vermutlich auch Eichers Vorliebe für östliche Kulturen und Randphänomene ihre grösste Resonanz: Die Musik des Esten Erkki-Sven Tüür, des Georgiers Giya Kancheli, des Ukrainers Valentin Silverstrov. Dass dies nicht bloss ein privater Spleen ist, zeigt der Fall Silverstrov: Die New York Times brachte zu einer Neuerscheinung bei ECM vor kurzem ein seitenfüllendes Portrait des Komponisten. Unternehmensziel KulturÜber ECM sprechen heisst über Manfred Eicher sprechen. Als ein von seiner Vision Besessener wurde er mit internationalen Auszeichnungen überhäuft, 2001 erhielt er den Grammy als "Best Classical Producer". Und wie kaum ein anderes Plattenlabel ist ECM geprägt durch den persönlichen Gestaltungswillen des Inhabers. Sein Unternehmen am Stadtrand von München mit seinen zwölf Angestellten und drei kleinen Büros in New York, Paris und Japan ist längst über den europäischen Markt hinaus gewachsen und weltweit präsent. Dass der amerikanische Markt sich ihm mehr und mehr erschliesst, ist nicht zuletzt auch den vielen internationalen Preisen zu verdanken. Eicher gehört er zu jenen eher seltenen Unternehmern, die eine genuine kulturelle Leistung erbringen nicht als eigennütziges Nebenprodukt in Form von Sponsoring, sondern als Hauptzweck der Tätigkeit. Damit verdient er erst noch gutes Geld. Doch finanzielle Dinge, sagt er, würden ihn nicht gross interessieren, er treffe seine Entscheidungen als Musiker. Kommunikationsgabe, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft sind seine wichtigsten Kapitalien. Ein bisschen Glück mag auch geholfen haben. Damit ist das Unternehmen bisher keineswegs schlecht gefahren. Von der viel zitierten Krise der Schallplattenindustrie ist bei ihm nichts zu hören. © Max Nyffeler zurück zu CD-Rezensionen, Labelportraits Der Text basiert auf einem Beitrag, der am 5.2.2004 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist. |