Sternenhaufen am Klavierhimmel

Das pianistische Gesamtwerk von Mikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875-1911)

ciurlionis klavierwerke CDEs verursachte einiges Aufsehen, als nach den ersten freien Parlamentswahlen in Litauen 1990 Vytautas Landsbergis an die Macht kam. Ein Pianist als Staatsoberhaupt: So etwas hatte es seit dem polnischen Ministerpräsidenten Paderewski nicht mehr gegeben. Aber Landsbergis spielte nicht nur Klavier, er war auch Musikforscher, und als solcher hatte er großen Anteil an der Wiederentdeckung der Werke seines Landsmanns Mikalojus Konstantinas Ciurlionis. Landsbergis’ Forschungsarbeit, eine kulturpolitische Tat ersten Ranges, hat seine Spuren auch im Ciurlionis-Werkverzeichnis hinterlassen: Die Katalognummern sind mit dem Kürzel „VL“, seinen Initialen, bezeichnet.

Ciurlionis, Komponist und Maler, starb vor bald hundert Jahren, am 10. April 1911, sechsunddreißigjährig in der Nähe von Warschau an einer Lungenentzündung. Er gilt als Begründer der nationalen Kunstmusiktradition Litauens. Sein Wirken fällt in den Beginn des 20. Jahrhunderts, erfolgte also relativ spät. Doch genau das macht ihn interessant für die Moderne; in seiner Musik verbindet sich, wie später auch bei Bartók, die Hinwendung zu nationalen Traditionen mit der Konstruktion des Neuen.

Nach Abschluss seiner Studien in Warschau und Leipzig schrieb er in einer kurzen Schaffensperiode von rund zwölf Jahren über dreihundertfünfzig Kompositionen, zumeist Klaviermusik, aber auch die sinfonische Dichtung „Im Walde“, die für das litauische Nationalbewusstsein eine identitätsstiftende Rolle spielte. Parallel zum Komponieren entstand sein malerisches Werk, das einen bedeutenden Beitrag zum Symbolismus der Jahrhundertwende darstellt. Ciurlionis arbeitete aus einem synästhetischen Impuls heraus. Die zerfließenden Formen seiner Naturbilder scheinen nach musikalischen Gesichtpunkten komponiert, in Bildern und Klängen artikuliert sich die Vision eines kosmischen Weltganzen.

Im kulturellen Bewusstsein Europas war Ciurlionis jahrzehntelang inexistent. Die beiden Kriege und nach 1945 der Stalinismus beeinträchtigten die Verbreitung seiner Werke, und erst in den sechziger Jahren, als litauische Forscher und Interpreten wie Landsbergis sich für den lange Missachteten einsetzten, nahm sein ungewöhnliches Œuvre langsam Konturen an. Ein entscheidender Rezeptionsschub folgte nach 1990, als sich die litauische Kultur aus der sowjetischen Vormundschaft löste, und für den endgültigen Durchbruch sorgte dann 2001 in Paris Mstislaw Rostropowitsch als Dirigent der westeuropäischen Erstaufführung der sinfonischen Dichtung „Im Walde“. Die Komposition war damals genau hundert Jahre alt.

Vorbildliche Gesamtedition des Klavierwerks

Die Veröffentlichung des Gesamtwerks für Klavier, die nun mit der fünften CD abgeschlossen wurde, bildet einen weiteren Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte von Ciurlionis’ Musik. Der entscheidende Anstoß kam vor zehn Jahren vom Münchner Komponisten und Rundfunkredakteur Wilfried Hiller, der Nikolaus Lahusen, einen begnadeten Schubert-Spieler, für die Gesamtaufnahme zu begeistern vermochte. Lahusen kam freilich nur bis zur CD Nummer drei. Nach seinem frühen  Tod 2005 setzte der litauische Pianist Rokas Zubovas die Arbeit am großen Projekt bei Radio Bremen fort.

Das Ergebnis liegt nun in einer mit Bildern von Ciurlionis geschmückten Kompaktedition im Schuber vor: Insgesamt mehr als sechs Stunden erfindungsreiche Musik, technisch schlackenlos und mit hörbarer Hingabe gespielt und begleitet von musikwissenschaftlich fundierten Kommentaren zu Leben, Werk und Wirkungsgeschichte. Dass es dazu der persönlichen Initiative von Einzelpersonen und der Veröffentlichung beim Außenseiter-Label Celestial Harmonies im fernen Arizona bedurfte, spricht nicht gerade für den Unternehmermut der europäischen Tonträgerfirmen.

Das vielleicht Erstaunlichste an diesem monumentalen Werk ist seine Kleinteiligkeit. Mit Ausnahme einer frühen Sonate in F-Dur aus Studentenzeiten und einem kleinen Variationenzyklus besteht es aus zahllosen, sorgfältig ausgearbeitete Miniaturen, die die Dauer von vier Minuten kaum je überschreiten. Die kürzeste, eine Mazurka, ist gerade einmal sechsundzwanzig Sekunden lang. Es sind funkelnde Splitter eines virtuellen Ganzen, ein Sternenhaufen am Firmament der Klaviermusik.

Um 1898 beginnt Ciurlionis Klaviermusik zu schreiben, sein Frühwerk besteht noch größtenteils aus Charakterstücken im Tonfall einer artistisch geläuterten Volkstümlichkeit, die, nicht nur mit Titeln wie Mazurka, Walzer und Prelude, auf das Vorbild Chopin verweisen. In der um 1903 mit überraschender Plötzlichkeit eintretenden Reifephase weichen die Tanz- und Liedformen abstrakteren Gestaltungsprinzipien. Ein polyphoner Gestaltungswille durchdringt nun die Stücke, Polyrhythmik und Ansätze zu Reihenstrukturen machen sich bemerkbar.

Die Preludes werden zum harmonischen und satztechnischen Experimentierfeld, das bis an die Grenzen der Tonalität reicht. Und die zuvor noch klassizistisch anmutenden Fugen – die Frucht intensiver Beschäftigung mit Bachs Kontrapunktik während der Leipziger Studienzeit – wandeln sich zu durchgeistigten Kleinformen, in denen ein einziger Gedanke in konzentrierter, individueller Weise durchgeführt wird.  Zum Spätwerk gehört aber auch ein ganzes Konvolut von Volksliedern – Preziosen, schlicht im Ton, aber von Meisterhand gerahmt.

Beide Pianisten, Nikolaus Lahusen und Rokas Zubovas, erfassen die große Vielfalt der Charaktere, die in diesem Mikrokosmos versammelt sind, mit bemerkenswerter Genauigkeit. Es entsteht das Bild einer Musik zwischen den Zeiten und den Kulturen, in der regionale und gesamteuropäische Perspektiven verschmelzen. Aus ihr spricht der Ernst der Bachschen Polyphonie ebenso wie die spätzeitliche Melancholie der ein Jahrzehnt zuvor entstandenen letzten Klavierwerke von Johannes Brahms. Doch bildet die Klaviermusik von Ciurlionis nicht den Abschluss einer Epoche, sie richtet vielmehr, noch vor Schönbergs Bruch mit der Tonalität, mit ihrer Suche nach neuen kompositionstechnischen Verfahren und ihrer synästhetischen Ausrichtung den Blick in die Zukunft.

Schönbergs zur Hysterie neigende Expressivität vermeidet Ciurlionis ebenso wie Skrjabins fiebrige Dauererregung. Seine Musik spricht vorwiegend in einer dunkel gefärbten, warmen Mittellage, die den enormen Reichtum einer Ausdruckswelt umfasst, in der Konstruktion und Affekt sich stets im Gleichgewicht befinden. Ciurlionis hält sich an das klassische Maß, das er auch bei seinem Vorbild Bach gefunden hat, und wie bei diesem ist es nicht zu verwechseln mit Mittelmaß.

@ 2010 Max Nyffeler
Eine Printversion dieses Artikels ist erschienen in der FAZ vom 18.11.2010

Mikalojus Konstantinas Ciurlionis: The Complete Piano Music. Nikolaus Lahusen und Rokas Zubovas, Klavier. 5 CDs im Schuber, Celestial Harmonies 19923-2 (Vertrieb Naxos)

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