Sternklänge

Eine bravouröse Gesamtaufnahme von Cages "Etudes Australes" mit Sabine Liebner

Cage Etudes AustralesNach dem Liszt-Jahr und Mahler-Jahr 2011 droht nun das Cage-Jahr 2012, und die Veranstaltungsreihen, Radioprogramme und CD-Veröffentlichungen pegeln sich bereit darauf ein. Doch vermutlich wird es nicht so flächendeckend abgefeiert werden wie bei den Größen der Vergangenheit, denn ein wenig von seinem Außenseitertum wird der Figur des 1912 in Los Angeles geborenen und 1992 in New York gestorbenen Komponisten auch in diesem Gedenkjahr erhalten bleiben, trotz aller möglicher Versuche, ihn nun postum zum Animateur des stets auf Ideenjagd befindlichen Musikbetriebs umzufunktionieren.

Dem schwierigen und eigenwilligen Cage, der sich der glatten Vereinnahmung entzieht, begegnet man nun in der Gesamtaufnahme der 1974 komponierten „Etudes Australes“, einem pianistischen Kompendium von vier mal acht Klavierstücken. Jedes Stück dauert rund acht Minuten, was sich zur epischen Länge von mehr als vier Stunden addiert. Sabine Liebner hat sich der Marathonaufgabe gestellt, und das Resultat liegt nun in einer bravourösen Einspielung vor. Bei der Aufnahme hat sie auf strikte Einhaltung eines einheitlichen Zeitverlaufs geachtet. Jede Partiturzeile hat dieselbe Zeitdauer, was bei der stark wechselnden Notendichte zu fantastischen Dehnungen und Zusammenballungen der Ereignisse führt. Artikulatorische Feinheiten und Nachklingeffekte, unterstützt durch eine sorgfältige Aufnahmetechnik, tragen wesentlich zum Eindruck eines äußerlich zwar statisch erscheinenden, im Inneren aber durchwegs belebten Klangraums bei, der kein Oben und Unten, Davor und Danach zu kennen scheint.

Den Begriff der Etüde muss man sich hier etwas anders denken als bei Czerny. Es geht nicht einfach um schnöde Fingerfertigkeit, sondern um geistig-körperliche Beweglichkeit ganz allgemein: um blitzschnelle Reaktionen und treffsichere Sprünge mit permanentem Übergreifen der Hände, um die über die ganze Tastatur verstreuten, völlig diskontinuierlichen Akkordfolgen im richtigen Moment und auf korrekte Weise zu greifen. Eine Ordnung ist darin nicht erkennbar, und in keinem Moment weiß man, was als nächstes kommt: ein versprengter Einzelton, ein kantiger Akkord – oder einfach Stille.

Wer das als strukturiertes Chaos empfindet, liegt genau richtig. Cage hat nämlich Sternenkonstellationen von Himmelskarten mittels Zufallsoperationen aufs Notenpapier übertragen und damit einen kleinen Klangkosmos geschaffen, der in seiner undurchschaubaren Komplexität dem großen durchaus ähnlich ist. Man tut gut daran, die grenzenlos scheinende Klanglandschaft mit ihrem unendlichen Variantenreichtum so zu hören, wie man den Sternenhimmel betrachtet: aufmerksam und detailgenau, doch ohne die Illusion logischen Verstehens. Ein bisschen Staunen ist aber durchaus erlaubt.

John Cage: Etudes Australes. Sabine Liebner, Klavier. Wergo 6742 2 (4 CDs)

© Max Nyffeler
Eine etwas geänderte Version dieser Kritik ist erschienen in der FAZ vom 3.12.2011

(12/2011)

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